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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Du erschreckst mich, Vater,“ fiel der Sohn in höchster Spannung ein.

„Fürchte nichts!“ entgegnete der Vater ruhig; „Du wirst nichts hören, was unserer Familie zur Unehre gereichen könnte. – Bis jetzt ist Dir nur bekannt, daß wir nicht aus Deutschland stammen, ich aber besitze alte Papiere, die berichten, wie, wann und warum wir die Heimath – Frankreich – verließen, wie und warum wir gerade hierher kamen. Diese Papiere sind Dein Erbe und ich will Dir dasselbe noch bei meinen Lebzeiten übergeben, jetzt, da ich noch im Stande bin, Erläuterungen hinzuzufügen, wo sie vielleicht nöthig sind. Diese Papiere sind freilich in französischer Sprache geschrieben, aber Du wirst sie lesen können, weil ich ja immer zu verhindern bemüht gewesen bin, daß Du in Deinem deutschen Geburtslande Deine französische Muttersprache vergäßest. Erst nachdem Du alles gelesen hast, was sich auf die früheren Zeiten und Verhältnisse bezieht, alles das, was die Schreiberin bis fast vor ihrem Tode aufgezeichnet hat, werde ich – gefällt es Gott – die Erzählung aufnehmen, sie mündlich fortsetzen und sowohl von der Tanne wie von der furchtbaren Nacht sprechen, in welcher ich sie pflanzte.“

Der Förster holte nach diesen Worten aus einem Versteck ein zusammengeschnürtes Packet vergilbter Papiere und übergab dasselbe seinem Sohne, der alsbald eifrig zu lesen begann. Was er las, war Folgendes.




„Viele traurige Jahre habe ich im fremden Lande gelebt, unter Menschen, die wohl freundlich gegen mich waren, aber meine Sprache nicht verstanden und meinen Glauben nicht theilten. Ich werde fern von der Heimath sterben und mein Leib wird in fremder Erde ruhen; ich werde das so sehr geliebte Vaterland nimmer wieder sehen und nie mehr die erquickende Luft der Heimath athmen; ich fühle, daß mein trauriger Lebenslauf bald vollendet ist, aber bevor die Gedächtnißkraft mich verläßt und bevor meine Augen sich schließen, will ich eine letzte schmerzliche Pflicht erfüllen: ich will für die geliebten Meinigen, die ich hinterlasse, auf diesen Blättern verzeichnen, warum ich das Vaterland verließ, warum ich dasselbe verlassen mußte, was ich gethan, erfahren und gelitten habe. Möge mir die Kraft bleiben, bis ich mit der Schilderung meines Lebens zu Ende gekommen bin!

Ich war das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater, dessen Angesicht gesehen zu haben ich mich nicht erinnere, der letzte Sproß des alten Grafengeschlechtes Neuillac, hatte seine hohe Stellung in der Armee des Königs von Frankreich aufgegeben, sich in sein Schloß im Elsaß zurückgezogen und, schon ziemlich bejahrt, mit der Tochter des Marquis von Lanar sich vermählt, die ihm ein ansehnliches Vermögen zubrachte, aber starb, indem sie mir das Leben gab. Er selbst überlebte ihren Tod, der ihn tief betrübte, nicht lange, und so war ich sehr früh schon eine vater- und mutterlose Waise. Eine Tante, die Schwester meines Vaters, nahm sich meiner an, freilich nur, um mich, der Sitte der Zeit und des Landes gemäß, den frommen Schwestern vom ‚heiligen Herzen‘ ist Straßburg zur Erziehung zu übergeben.

Bei ihnen, hinter hohen Klostermauern, habe ich meine Jugend vertrauert. Mehr als einmal versuchte ich, freilich immer vergeblich, dem Zwang zu entfliehen und mir die Freiheit zu gewinnen. Ach, wie beneidete ich die Vögel, die frei und ungehindert über die Mauern des Klostergartens flogen! Mit welcher Sehnsucht schweiften meine Blicke hinaus in die blaue Ferne, wo, wie ich wähnte, die Freiheit und das Glück wohnten! Welche Traurigkeit empfand ich, wenn ich steif bei dem mich langweilenden Unterricht sitzen ober Stunden lang in der Kirche im Gebete verbringen mußte! Man hatte mich Gott nicht als den allmächtigen und allgütigen Vater lieben gelehrt; meinen kindischen Gedanken erschien er nur als ein Art König, der, wie man sagt, droben im Himmel regiere. Für viel größer, mächtiger und gütiger hielt ich den König von Frankreich, in welchem ich das höchste und gütigste Wesen in der Welt verehrte, denn alle Wohlthaten und die Erfüllung aller Wünsche, die mir bekannt wurden, kamen von ihm.

Mit schwärmerischer Liebe hing ich dagegen an der heiligen Jungfrau wie an einer schönen, gütigen, jungen Mutter, die mir ja immer gefehlt hatte. Ueber ihrem Altare in unserer Klosterkirche hing ihr reizendes, liebliches Bild; zu ihren freundlichen milden Zügen blickte ich stets mit einer Art Verzückung auf, und ihr theilte ich in stillem Gebete alle meine Wünsche und Gedanken mit. Sonst spielte und lachte ich lieber, als daß ich lernte und betete. Ich galt deshalb für leichtsinnig und flatterhaft, wurde häufig gescholten und mußte nicht selten sogar Strafe leiden. Die entsetzlichste, die härteste Strafe aber für mich war es, wenn ich zu der alten strengen Superiorin unseres Klosters beschieden wurde und eine Strafpredigt von ihr anhören mußte. Sie stand dann stets regungslos vor mir; mich durchlief bei ihrem Anblick ein Frösteln; nur mit äußerster Anstrengung vermochte ich zu ihrem marmorstarren und marmorkalten Gesichte aufzublicken, und ich weinte bitterlich, wenn ein Blick aus ihren grauen, stechenden, bösen Augen mich traf. Ich war überzeugt, ich weiß nicht warum, daß sie mich tödtlich hasse, weil sie alt und mürrisch, ich aber jung und frohgemuth war, was ihr jedenfalls gleichbedeutend mit sündhaft erschien.

Mit inniger Freude und mit der aufrichtigsten Liebe gedenke ich nur einer Jugendfreundin, der einzigen, die ich in dem verhaßten Kloster gefunden. Sie kam etwa ein Jahr nach mir dort an, stand in ziemlich gleichem Alter mit mir und war die Tochter vornehmer deutscher Eltern jenseits des Rheines, die ihrem Kinde keine größere Wohlthat erzeigen zu können meinten, als wenn sie dasselbe in einem französischen Kloster erziehen ließen. Die Fremde war ungemein schüchtern und hatte die schönsten sanftesten blauen Augen, wie das goldigst seidenweiche Haar, zwei Eigenthümlichkeiten, die mich zuerst auf sie aufmerksam machten und zu ihr hinzogen. Bald aber lernte ich sie lieben wegen ihres weichen Sinnes, wegen ihres demüthigen Wesens und wegen ihrer nicht zu bezwingenden Geduld, also gerade wegen derjenigen Eigenschaften, die mir gänzlich abgingen, und es gewährte mir eine große, stolze Freude, das sanfte, schüchterne Mädchen unter meinen Schutz zu nehmen. Fast jedesmal, wenn sie einen Fehler begangen hatte und darum gescholten werden sollte, scheute ich selbst eine kleine Unwahrheit nicht, um die Schuld und, im Nothfall, die Strafe von ihr abzuwenden und auf mich zu nehmen, was sie mir durch die wärmste und dankbarste Anhänglichkeit vergalt. Vieltausendmal haben wir uns bei solchen Gelegenheiten ewige Freundschaft und Treue geschworen.

Die Mutter der Freundin, eine stattliche Dame von noch immer großer Schönheit, kam regelmäßig einige Mal im Jahre in unser Kloster, um die Tochter zu besuchen, und da diese bei allen solchen Gelegenheiten mit begeisterter Liebe von mir sprach, wurde auch ich bald der Dame vorgestellt, die ich denn als die Mutter meiner Freundin lieben lernte, weil ich leider selbst keine Mutter hatte.

So vergingen die Wochen, die Monate und die – Jahre unserer Kindheit in unveränderlicher Einförmigkeit; wir wuchsen heran. Die Freundin entwickelte sich zu einer vollen, kräftigen, blühenden Jungfrau, während mein Körper lang, schlank und hager emporschoß, so daß ich die geliebte Freundin bisweilen wohl mit einem gewissen Gefühl von Neid betrachtet habe. Ich erinnere mich wenigstens, daß ich mich der Sünde solchen Neides mehr als einmal im Beichtstuhl angeklagt habe. Der Aufenthalt im Kloster wurde uns, je länger er währte, um so langweiliger und lästiger, und wir sprachen täglich von der ersehnten Zeit, in welcher wir die Freiheit erlangen und in ‚die Gesellschaft‘ eintreten würden. Selten indeß war zwischen uns von unserer Verheirathung die Rede, weil die Freundin immer nur sehr schüchtern und mit sichtbarem Widerstreben in meine seltsamen und schwärmerischen Ideen von dem Glücke einging, das ich mir an der Seite eines geliebten jungen und schönen Mannes nicht reizend und entzückend genug auszumalen vermochte. Sie lehnte es stets mit Erröthen ab, meiner Phantasie von einem solchen Leben zu folgen, ja sie erzählte mir eines Tages weinend, daß ihre Mutter ihr die Mittheilung gemacht habe, sie werde bald aus dem Kloster abgeholt werden, um in die Welt einzutreten, denn der Reichsgraf von * * *, ihr Nachbar, habe für seinen jüngsten Sohn um ihre Hand angehalten, und diese sei ihm mit Freuden zugesagt worden, weil man eine glänzendere Partie für die geliebte Tochter schwerlich jemals wieder finden könne. Der junge Graf sei übrigens außerordentlich liebenswürdig und habe sich durch seinen mehrjährigen Aufenthalt auf Reisen, namentlich in Paris, zu einem solchen Muster von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_737.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)