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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 48.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Nach fünfzig Jahren.


Aus den Papieren eines Wohlbekannten.


(Fortsetzung.)


„Die Sonne stand bereits nahe am Horizonte und im Walde fing es allmählich zu dunkeln an. Mein Kind, das geschlafen hatte, erwachte und begann zu weinen. Mathis, der mit seinem Knaben sofort abgestiegen war, stand bereits am Wege, bang erwartend, was nun geschehen werde. Widerstand konnten wir nicht leisten, ja, wenn wir es vermocht hätten, würde es jedenfalls die äußerste Thorheit gewesen sein, dies zu thun. Ich stieg also, wie uns geheißen war, aus, und gleich hinter mir folgte die Wärterin mit dem Kinde, das ich sofort in meine Arme nahm, um es selbst zu schützen, wenn es gefährdet sein sollte, denn meine Besorgniß war sehr groß.

Als wir Alle, angstvoll der Dinge harrend, die geschehen würden, am Wege standen, stiegen zwei der Bewaffneten in den Wagen und durchsuchten denselben genau. Ein Dritter setzte sich zu dem Kutscher, den man nicht genöthigt hatte, abzusteigen, auf den Bock und ein Vierter nahm den Platz hinten am Wagen ein. ‚Umkehren!‘ riefen gleich darauf die Zwei, die in den Wagen gestiegen und darin geblieben waren. Wir standen noch immer am Wege und fürchteten nun, ebenfalls wieder zum Einsteigen genöthigt und mit Gewalt zurückgebracht zu werden. Der Kutscher lenkte indeß um, wie ihm befohlen war, dann trieb er die Pferde zu raschem Laufe an und fuhr in den Hohlweg zurück, aus dem wir soeben herausgekommen waren. Wir aber standen hülflos unter dem freien, dunkelnden Himmel, und wußten nicht, ob Die, welche uns angehalten hatten, Revolutionsmänner waren, die mich an der Flucht zu hindern beabsichtigten, oder Räuber, die vermutheten oder wußten, daß ich eine Summe Geldes bei mir im Wagen habe, und derselben sich bemächtigen wollten. Da uns durchaus sonst kein Leid angethan worden war, so schien wohl die letztere Annahme die richtige zu sein.

‚Der Kutscher ist im Einverständnisse mit den Räubern oder wohl gar der Anstifter des Anfalls gewesen‘, meinte Mathis.

Daß ich irgend einmal und zwar bei der ersten Gelegenheit Frankreich, das ich haßte, so lange es unter den Schreckensmännern der Revolution schmachtete, verlassen werde, war unter meinen Leuten allerdings kein Geheimniß, auch hatte man sehr wohl bemerken können, daß ich in der letzten Zeit Vorbereitungen getroffen, die auf meine baldige Abreise deuteten, und daß ich mich reichlich mit Geld bei dieser Gelegenheit versehen werde, ließ sich sehr wohl voraussehen. Die Vermuthung des treuen Mathis hatte also die Wahrscheinlichkeit für sich.

Da standen wir nun in dem einsamen, dunkelnden Walde, ohne zu wissen, was wir beginnen sollten. Sollten wir umkehren, uns bemühen, die Uebelthäter zu ermitteln und sie der Strafjustiz zu übergeben? Aber dann wurde meine Absicht, das Land zu verlassen, unbestreitbar offenkundig, und ich setzte mich der Rache der Revolutionäre noch mehr aus. Vielleicht, ja wahrscheinlich, war der schreckliche Eulogius Schneider mit der Guillotine und seinen Begleitern unterdeß unserer Gegend noch näher gekommen, und wenn ich ihm in die Hände fiel, war ich unrettbar verloren. Diese Aussicht, die sich mir mit allen Schrecknissen immer fürchterlicher darstellte, entschied, und ich erklärte, daß wir trotz Allem, was geschehen sei und vielleicht noch geschehen werde, den Weg fortsetzen müßten.

‚Eines Wagens werden wir gar nicht bedürfen,‘ äußerte Mathis, ‚weil wir uns in ganz geringer Entfernung vom Rheine befinden. Das Dorf, in welchem der Mann wohnt, der versprochen hat, gegen eine bestimmte Summe uns über den Fluß hinüber zu bringen, muß ganz in der Nähe liegen. Haben wir dann deutschen Boden betreten, können wir unsere Reise ungestört nach Belieben fortsetzen, wann und wohin wir wollen.‘

So wanderten wir denn, keineswegs entmuthigt, jenem Dorfe zu und erreichten dasselbe auch glücklich, ehe die Nacht vollständig eintrat. Wir hörten deutlich das Rauschen des Rheines, denn das kleine Dorf lag dicht am Ufer desselben, und der Mann, der uns überzusetzen versprochen hatte, wohnte in dem ersten Häuschen.

Mathis ging zu ihm voraus: ‚Alter, da sind wir!‘ rief er an der Thür des Häuschens. ‚Wie steht’s? Alles in Ordnung?‘

‚Das Boot liegt schon bereit,‘ antwortete ihm der Mann, ‚aber ich rathe, mit der Ueberfahrt zu warten bis zum nächsten Morgen. Ich allein kann im Dunkel die Fahrt nicht wagen, denn der Rhein geht hoch, und mein Gehülfe ist nicht zur Hand. Ehe er aufgefunden werden kann, vergeht wohl eine Stunde, und dann ist finstere Nacht. Gleichwohl ist er der Einzige, dem wir trauen dürfen, und es ist im Dorfe bereits gemeldet, daß Aristokraten kommen und von hier aus zu fliehen versuchen würden, auch Befehl gegeben, sie anzuhalten.

Wir traten in das Häuschen des Schiffers.

‚Retten Sie uns!‘ beschwor ich ihn. ‚Ich will Sie reich belohnen, reicher als Sie vermuthen können – aber retten Sie uns sofort! Sie sind mit dem stürmischen Elemente vertraut; so wagen Sie es denn, uns allein über den Fluß zu bringen! Schaffen Sie uns hinüber – es soll Sie nicht gereuen!‘

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_767.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)