Seite:Die Gartenlaube (1874) 781.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

als stattlicher Hintergrund zu diesem bewegten Genrebilde ragt der stolze Bau der Passage empor! Noch vor gar nicht so langer Zeit trugen die Straßen Berlins fast durchweg den Charakter tödtlicher Nüchternheit und echtester Kleinstädterei. Erst neuerdings und Hand in Hand mit dem Erwachen des nationalen Selbstgefühls ist auch der Sinn für schöne und der deutschen Residenz würdige Bauten erwacht, welcher in einer großen Reihe schnell hintereinander entstandener Werke seinen Ausdruck fand. Die Menge aber der neuen palastartigen Privathäuser und durch Eleganz des Stils, wie durch Gediegenheit des Materials ausgezeichneten öffentlichen Gebäude wird von der köstlichen Copie der weltberühmten Mailänder Passage überragt. Das großartige, 1873 vollendete Werk, an dem nur eines, der französische Name, zu bedauern ist, bedurfte zu seiner nach dem Entwurfe der Baumeister Kyllmann und Heyden ausgeführten Erbauung eines Zeitraums von drei Jahren. In einer Länge von vierhundertundzehn, einer Breite von sechsundzwanzig Fuß und einer Höhe von zweiundvierzig Fuß bildet die Passage, eine mit Glas überdeckte Verbindung zwischen der Straße „Unter den Linden“ und der Behrenstraße. Beide Façaden, nach den Linden und der Behrenstraße, sind im Stile reicher, an französische Kunst sich anlehnender Renaissance gehalten. Das Gebäude nach den Linden zu enthält außer vielen Nebenräumen einen prachtvollen großen Concert- und Redoutensaal, dessen Decke und Wände mit vorzüglichen Gemälden von Begas, Hildebrand und Ewald und dessen Fenster mit Glasgemälden geschmückt sind. Im Innern des nach der Behrenstraße gelegenen Flügels befinden sich echt großstädtisch eingerichtete Geschäftsräume, unter ihnen jene schönen und bequemen Correspondenzsäle, wie sie Berlin bisher nicht gekannt hat. Für eine geringe Vergütigung empfängt der Gast daselbst alle erforderlichen Schreibmaterialien, Couverts und Marken, um an comfortablen Pulten Briefe oder Depeschen zu schreiben. Ein Briefkasten nimmt das Geschriebene auf, um es direct in das Postbureau im Erdgeschosse hinabgleiten zu lassen, von wo es an Ort und Stelle expedirt wird.

Das Restaurationslocal der Passage umfaßt die ausgedehnten Räume des Entresols und des ersten Stockes, einen Complex von sechszehn Sälen und Nebengemächern, ihrer Anlage und inneren Einrichtung nach ebenso behaglich, wie luxuriös, ebenso künstlerisch schön in der Ausstattung, wie zweckentsprechend für den Gebrauch.

Vom Treppenflur, zu dem sich der Eingang in der Behrenstraße öffnet, führt eine Wendelstiege aus schlesischem Marmor in einem zwar schmalen, aber stattlichen Treppenhause zum ersten Geschoß hinauf. Ein langer Speisesaal mit sechszehn Fenstern Front nimmt den Raum nach der Behrenstraße hin ein. Er geht unmittelbar in den hohen, strahlenden Concertsaal über, welcher, von unserer „stumpfen Ecke“ gesehen, oberhalb des großen Eingangsthors von der Friedrichsstraße her liegt. Er ist von imposanter architektonischer Anlage und Decoration, dreiseitig nach der Straße hin abgeschlossen.

Vom Westende des Speisesaales führt die Wendeltreppe zu den Räumen des Entresols, in welchem namentlich die kolossalen Billardsäle Staunen erregen.

Die eigentliche Glasstraße, welche vom frühen Morgen bis zum späten Abend von dem promenirenden Publicum dichtgefüllt ist, die sogenannte „Kaisergalerie“, ist ganz in Terracotta ausgeführt und mit figürlichen Compositionen der Bildhauer Afinger, Enke, Wittig, Calandrelli u. A. geschmückt. Der Fußboden ist mit Metlacher Platten belegt. Die Tausende, welche diese Galerie täglich passiren, richten in der Mehrzahl ihre Augen wohl weniger nach oben zu den herrlichen Ausschmückungen, die zu beschreiben einer eigenen Broschüre bedürfte, als nach den Seiten der Galerie, auf welchen eine Reihe von Magazinen, von denen eines immer reicher und eleganter ist, als das andere, die Schaulustigen anlockt.

Am belebtesten ist es in und vor der Passage zur Nachmittagszeit, wenn die junge vornehme Welt sich zur Promenade anschickt. Namentlich Sonntags, wenn der Himmel nicht eine gar zu düstere Miene macht, ist des Menschengewühls hier kein Ende. Einen solchen Moment belebter Nachmittagspromenade hat der Künstler zu seinem Bilde gewählt. Das Trottoir ist mit Spaziergängern reich besetzt; elegante Gestalten, geputzte Kinder überschreiten die Straße; durch den Eingang der Passage drängt sich die Menge; noble Equipagen jagen im Hintergrunde vorüber, und von stolzen Rossen herab übersieht ein vornehmes Paar das farbenreiche Gruppenbild vor der Passage. Wir folgen dem Strome, suchen in dem nach Wiener Muster eingerichteten Café, welches in der Mitte des Durchgangs zur Einkehr einladet, kurze Rast und lassen das Panorama großstädtisch-aristokratischen Lebens mit demselben Interesse an uns vorüberziehen mit welchem wir das bürgerlich-geschäftliche Getriebe an der „stumpfen Ecke“ des Mühlendammes beobachtet haben.

M. R.




Blätter und Blüthen.


Klein-Deutschland. Mit dem Namen „Klein-Deutschland“ oder auch „Dutchtown“, wie der Amerikaner es in seine Sprache übersetzt, wird ein ziemlich umfangreicher Stadttheil New-Yorks bezeichnet, der zwar nicht ausschließlich, aber doch vorzugsweise von Deutschen bewohnt ist. Die obige Bezeichnung für das deutsche Quartier und namentlich die amerikanische Lesart derselben ist hier bei Weitem geläufiger als in Deutschland der Name Waldeck oder Lichtenstein. Der Ankömmling von drüben, an welchem Punkte der Manhattan-Insel er immer landen möge, darf sicher sein, daß er in dem Ersten, der ihm begegnet, einen sichern Wegweiser nach „Dutchtown“ findet.

Schon das äußere Gepräge dieses Stadttheils unterscheidet sich merklich von seiner Umgebung, allerdings nicht immer zum unbedingten Vortheile unserer Landsleute. Was ihn ganz besonders kennzeichnet, ist der in ihm durchweg vorherrschende Gebrauch der Muttersprache, leider in einer so verkommenen Gestalt, daß ein „Grünhorn“ (Bezeichnung für den Ankömmling) versucht werden könnte, sie für ein völlig fremdes Gewächs zu halten. Außerhalb „Dutchtown“ dürfte es auf der Erde kaum einen Platz geben, wo die verschiedensten deutschen Mundarten in gleicher Weise gegen einander ausgetauscht werden. Vom derben ostfriesischen Seemannsfluche bis zur gewähltesten Höflichkeitsformel eines biederen Sachsen variirt der herrliche Mutterlaut in allen ihm möglichen Modulationen. Durch den fortwährenden unmittelbaren Austausch der Dialecte einerseits und durch die Aufnahme vieler mundgerechter englischer Wörter, die meistens von unsern schwäbischen Landsleuten des bessern Klanges wegen mit der Nachsilbe „le“ geziert werden, andererseits entsteht jenes wundervolle Sprachsammelsurium, das in Pennsylvanien unter dem Namen „deutsch-pennsylvanisch“ sogar der Landessprache gefährlich zu werden droht.

„Klein-Deutschland“ umfaßt etwa vierhundert Häusergevierte oder sogenannte Blocks; es hat sechs Avenues oder Längenstraßen, die von vierzig und einigen Querstraßen rechtwinkelig geschnitten werden. Auf diesem Flecke wohnen nicht weniger als fünfzigtausend Deutsche einmüthig beieinander; in höchst einzelnen Fällen hat sich ihnen eine irische Familie zugesellt. Während politische Grenzen in keiner Weise sichtlich hervortreten und an die alten Tage der Heimath erinnern, scheint religiöser Einfluß durchgehend die Wahl einer Niederlassung bestimmt zu haben. So haben die Katholiken namentlich den untern oder südlichen Theil in Beschlag genommen, wo ihre mächtige Kathedrale an der dritten Straße den Schwerpunkt bildet, während die einfachen, meist thurmlosen Gotteshäuser der Protestanten und freien Gemeinden nur im oberen Theile zu finden sind. Will der Jude einer ähnlichen Neigung folgen, so siedelt er sich bei seinen Glaubensgenossen in der zehnten Straße an.

In industrieller und mercantiler Hinsicht steht „Klein Deutschland“ nicht nur keinem der übrigen Stadttheile nach, sondern es hat in verschiedenen Branchen des gewerbthätigen Lebens gar eine Berühmtheit erlangt. So beherrschen die Norddeutschen den ganzen Kram- und Gemüsemarkt New-Yorks, während Süddeutschland vorzügliche Bierwirthe liefert. Das Fleischer- und Bäckeramt betrachten die Schwaben als ihr Privilegium, wie die polnischen Juden die Weißwaaren- und Putzgeschäfte.

Wenn irgendwo in der Welt das Handwerk einen goldenen Boden hat, so ist dies ganz gewiß in „Dutchtown“ der Fall. Hier ist Armuth eine große Seltenheit; dahingegen würde man bei etwaiger Haussuchung kaum eine Familie finden, die nicht im Besitze eines Sparcassenbuches wäre, das freilich in den wenigsten Fällen Reichthümer enthält; denn nach hiesiger Auffassung der Begriffe „reich“ und „arm“ giebt ein Vermögen von zwei- bis dreitausend Dollars noch kaum das Recht, seinen Besitzer wohlhabend, geschweige denn ihn reich zu nennen.

Unter den Geschäftsstraßen, die unser „Deutschländchen“ der Länge nach durchschneiden (denn nur die Längenstraßen sind in größeren amerikanischen Städten die eigentlichen Geschäftsstraßen), darf ich zwei als besonders charakteristisch hervorheben: die Bowery, zugleich westliche Grenze, mit ihren zahlreichen Kunsttempeln und Vergnügungslocalen, die der Deutsche mit dem Irländer brüderlich theilt, und die Avenue B, an welcher sich die mercantilen Geschäfte concentriren. Letztere wird auch deutscher „Broadway“ genannt. Wenn man sich eine Leipziger Messe oder irgend einen der größten Jahrmärkte Deutschlands vergegenwärtigen will, so hat man damit eine ziemlich schwache Vorstellung von dem Leben und Treiben, das Tag für Tag, jahraus, jahrein auf dieser Promenade herrscht. Jedes Erdgeschoß ist eine blühende Werkstatt, jede Beletage ein brillanter Laden, und die streckenweise überdachten Seitenwege bilden einen unabsehbaren Stapelplatz für Waaren, offen für Jedermann; obwohl nun tausenderlei allerliebster Kleinigkeiten von geschickten Fingern ohne viel Aufhebens zu annectiren wären, gehört ein Diebstahl auf offener


Hierzu der „Weihnachts-Anzeiger“, Extrablatt der „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_781.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)