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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Straße doch zu den Seltenheiten. Unsere Diebe sind gar romantische Naturen; sie lieben gefahrvolle Einbrüche, blutige Raubanfälle, aber es würde eine Schande für die ganze Sippschaft sein, ließe sich einer auf einem so gewöhnlichen und gefahrlosen Wege ertappen.

Je näher der Abend kommt und je mehr das Leben im unteren, dem eigentlichen Geschäftstheile der Stadt erstirbt, desto mehr beleben sich die Straßen im „kleinen Deutschland“. Tausende und aber Tausende von Familienvätern sind heimgekehrt, und ein Jeder derselben macht nach eingenommenem Abendbrod den üblichen Spaziergang mit Weib und Kindern, wobei in der Regel die Einkäufe für den folgenden Tag besorgt werden. Dem Nützlichen verbindet sich das Angenehme. Orgeldreher und fahrende Musikbanden erscheinen auf der Scene, beginnen jetzt den glanzvollsten Abschnitt ihrer Thätigkeit und finden auf Schritt und Tritt ein dankbar lauschendes Publicum. Fruchthändler und der unvermeidliche Zuckerwaaren-Verkäufer belagern die Straßenecken, und die pyramidenartig aufgestapelten Producte des Südens lächeln gar zu verführerisch in dieser magischen Kienspahnbeleuchtung. Ein zahlloses Heer barfüßiger Zeitungsjungen versorgt um diese Zeit den Markt mit echten und unechten Depeschen, die das Kabel am Nachmittage gebracht, oder mit Abendblättern, die in politsch-mageren Zeiten von schauerlichen Sensationen strotzen. Hie und da lodert eine mit Theer bestrichene Tonne mitten auf der Straße, um von irgend einem frohen Familienereignisse Kunde zu geben oder um die Reste verfaulten Bettstrohes zu verschlingen. Sobald die Witterung ein längeres Verweilen unter freiem Himmel gestattet, entfaltet das beschriebene Bild sich in einem noch größeren Maßstabe auf dem „Tompkin-Square“, einem großen quadratförmigen freien Platze im Centrum unseres deutschen Quartieres.

Auch im Uebrigen hat der Bewohner „Dutchtowns“ sich den Gebräuchen der alten Heimath wenig entfremdet; ja manche seiner Naturanlagen scheinen hier sogar noch einer höheren Entwickelung fähig zu sein. Der Genuß des Bieres zum Beispiel ist verhältnißmäßig stärker als in irgend einer durstigen Stadt der alten Welt, selbst München nicht ausgenommen. Bier und Sauerkraut sind die einzigen deutschen Wörter, welche hinsichtlich ihrer Aussprache dem Amerikaner keine Schwierigkeiten machen, die einzigen Laute, die ihm zu Gebote stehen, wenn er das Nationalgefühl seines teutonischen Vetters reizen will, und nicht selten haben wir die Ehre Mr. Lagerbier oder Mr. Sauerkraut angeredet zu werden. Gambrinus ist der gute Geist in jeder Familie: ihm zu Ehren thront der Pitcher (Krug) in allen Größen und Formen auf dem Kamingesimse jeder Haushaltung, und die ritterliche Gestalt des edlen Flandern erscheint in allen unseren Festzügen und ungleich majestätischer als die verblichene Fratze des irischen Sanct Patricks, der bei dergleichen Gelegenheiten den Whiskey zu repräsentiren hat.

Wie man Bowery die Kunststraße, Avenue B die Geschäftsstraße nennen könnte, so ließe sich Avenue A als Lagerbierstraße bezeichnen. Hier reiht sich eine Halle des erhabenen Gambrinus an die andere; hin und wieder nur ward es einem Austern-Salon oder einer Specereihandlung gestattet, die Eintönigkeit zu unterbrechen. „Das muß ein gar gemüthliches Kneipenleben sein,“ denkt man gewiß in Deutschland. Aber man irrt sich; gemüthlich ist es keineswegs, und so ein alter, regulärer Stammgast von drüben möchte das Leben in einem New-Yorker Bierlocale höchst unbehaglich, sogar unheimlich finden. In vielen Fällen wird der Mann auf seinen Biergängen vom Weibe begleitet, das sich theils unter die Gesellschaft des Salons mischt, theils gleich einer Rebekka am Brunnen mit dem Kruge am Schenktisch auf den Quell des Lebens wartet. Wenn der deutsche Mann hier ein Auge zuzudrücken hat, genießt er auf der andern Seite das dem Amerikaner fast unbekannte Glück, in seinem Weibe eine treue Lebensgefährtin zu besitzen. Mit geringer Ausnahme ist das deutsche Weib hier eine wackere, in das Geschäft oft fördernd eingreifende Hausfrau. Die Weiberrechtlerinnen haben im „Deutschländchen“ bisher wenig Anklang gefunden, während es unseren Frauen keineswegs an Energie fehlt, die ihnen innerhalb ihres Bereiches zustehenden Rechte mit dem größten Nachdrucke zu vertheidigen. So war ich noch vor wenigen Tagen Zeuge einer gar komischen Scene, die darin bestand, daß ein Haufen Mütter einen Yankee, der sich etwas vorwitzig über den deutschen Kindersegen ausgesprochen hatte, mit Besenstielen bis zur Grenze transportirten.

Bezüglich der Temperanz- und Sonntagsgesetze nimmt „Klein Deutschland“ dem übrigen New-York gegenüber eine immerwährend feindliche Stellung ein, die in ruhigen Zeiten jedoch niemals einen herausfordernden Charakter annimmt. In der Wahlzeit aber würde ein politischer Candidat nie auf die Stimme eines Deutschen zählen können, wofern er es unterließe, die Beseitigung der verhaßten Gesetze in sein Programm aufzunehmen. So wenig der Deutsche sich sonst um die öffentlichen Angelegenheiten der Stadt kümmert, an seinem Sonntagsvergnügen hat er mit der ihm eigenen Zähigkeit festgehalten. Während in den irischen und Yankee-Quartieren der Sonntag eine plötzliche unheimliche Stille hervorruft, gleicht das Völkchen von „Dutchtown“ an diesem Tage einem summenden Bienenschwarme in der Stille des Urwaldes.

Die zahllosen Vergnügungslocale, die Volks- und Nationalgärten an der Bowery sind bereits am Nachmittage übervölkert, und Kunstgenüsse der verschiedensten Art vom classischen Drama bis zur Puppen-Komödie herab befriedigen den Geschmack und das vorhandene Bedürfniß in jeder Richtung. Neben diesen für Jedermann meistens gratis geöffneten Kunsttempeln laden zahlreiche Vereine und Gesellschaften zu ihren Abendunterhaltungen ein; Gesang, Declamation, ein Lustspiel, abwechselnd mit einer Operette, und Ball bilden in den meisten Fällen das während der Saison wenig veränderte Programm. Unser „Deutschländchen“ zählt allein an sechszig Gesangvereine, unter denen mehrere ihr eigenes Local besitzen. Während der Sommermonate werden die Sonntage natürlich zu weiteren Ausflügen benutzt; Excursionen zu Wasser oder zu Lande dürfen bei uns Deutschen stets auf lebhafte Theilnahme rechnen, und vor allen Plätzen ist das liebliche „Staten-Island“ am Eingange der Bai von New-York das Ziel unserer sonntäglichen Wallfahrten. Die schattenreichen Waldungen, die anmuthigen Hügel, die eine weite Aussicht auf das Meer gestatten, zumeist aber das Kommen und Gehen heimathlicher Segel – alles Dies übt einen ganz besonderen Zauber und läßt uns die liebe alte Heimath nie ganz vergessen. Die Anziehungskraft dieses Eiländchens ist so gewaltig, daß selbst die entsetzliche Westfield-Katastrophe, die an einem Sonntagnachmittage des vorigen Sommers mehr als hundert Menschenleben auf dieser Fahrt vernichtete, seiner Frequenz kaum etwas geschadet hat. Auch die an der Nordseite der Stadt gelegenen Parks bieten unsern deutschen Völkerschaften ein günstiges Terrain zur Abhaltung landesüblicher Feste, unter denen das dreitägige Cannstädter Volksfest eine hervorragende Stelle einnimmt. An dieses schließt sich dann eine Reihe von Kirchweihen, Schützen- und Sängerfesten, Wurst- und Traubenmärkten, die erst spät im Herbste ihr Ende erreicht.

Auf dem Gebiete der Politik, das bekanntlich hier zu Lande zu den einträglichsten gehört, haben unsere Klein-Deutschen sich bisher am unthätigsten gezeigt, und ich bin genöthigt, ihnen diese Lauheit bis zu einem gewissen Grade als eine Ehre anzurechnen. Die himmelschreienden und vor aller Welt beispiellos dastehenden Uebelstände in der städtischen Verwaltung New-Yorks belasten das Conto unseres ehrlichen Namens nicht mit dem geringsten Posten, und kein Deutscher figurirt auf der Liste unserer größten und gemeinsten Staatsverbrecher. Zwar besitzen wir auch unsere politischen Genossenschaften, jedoch nur, um am Wahltage die Parade mitmachen zu können. Auch fehlt es im „Deutschländchen“ nicht an sogenannten Wardpolitikern, ehrlosen Subjecten, die den Judaslohn sicher nicht von der Hand weisen würden; allein das politisch schwerfällige deutsche Element ließ sich für ihre Zwecke nie verwerthen. Erst die allmächtig strahlende Siegessonne des deutschen Kaiserreichs erweckte auch bei uns Deutsch-Amerikanern neues politisches Bewußtsein und eine regere Theilnahme am öffentlichen Leben. In jenen glorreichen Tagen war es eine Lust, durch’s „Deutschländchen“ zu wandern. Guirlanden und Kränze schmückten jeden Giebel, und die Fahnen verschwanden fast nie von den Dächern. Jünglinge, die „Wacht am Rhein“ singend, durchzogen die Straßen Arm in Arm, als ginge es zu einer Rekrutenaushebung oder zum Ausmarsche in’s Feld. Die wunderbare „Nationalhymne“ erklang vom frühen Morgen bis spät in die Nacht; sie klang aus jeder Bierhalle, aus jedem Arbeitsshop; der Vater lehrte sie seinem Knaben; die Mutter sang ihren Säugling damit zur Ruhe. Versammlungen fanden an allen Ecken und Enden statt; ich erinnere mich, daß ich an einem Abend an sieben verschiedenen Plätzen Sympathien für die gerechte Sache meines Vaterlandes zum Ausdrucke gebracht habe. Uebrigens nehmen seit dieser Zeit die Deutschen mehr Antheil an den hiesigen politischen Bewegungen.

J. J.




Die Friedenslinde an der Hasenhaide. Ueber die Großthaten der Gegenwart und deren Verherrlichung sollen wir nicht vergessen, daß auch unsere Vorfahren große Zeiten gesehen, Zeiten, denen wir um ihrer gewaltigen uns noch heute fruchtenden Errungenschaften willen ein pietätvolles Gedenken schulden. Die Epoche von 1813 bis 1815 ist in der Geschichte deutschen Ruhmes ein nicht minder wichtiger Merkstein, wie das glorreiche Jahr 1870/71 es ist, und darum sollen uns die Denkmäler jener Zeit der Befreiung vom fremden Joche immerdar heilig bleiben. Nun steht aber auf einem Hügel am Eingange zur Hasenhaide bei Berlin (von der Seite des Cottbuser Thores aus), dicht neben der Happold’schen Brauerei eine prachtvolle Linde, welche nach den blutigen Kämpfen der Befreiungskriege von patriotischen deutschen Männern zur Feier des Friedensschlusses gepflanzt wurde – heute ist sie fast ganz vergessen; aber nicht nur das, ihre Wuzeln sind in einer Tiefe von sechs bis acht Fuß vom Erdreich völlig entblößt. Regen und Wind verzehren den Hügel immer mehr, und der nächste Sturm kann den Baum fällen, den unsere Großväter zu Ehren des Vaterlandes gepflanzt haben. Im Hinblicke auf diese für uns beschämende Möglichkeit dürfte es, wie uns von einer Anzahl Berliner Bürger mitgetheilt wird, nöthig sein, zur Befestigung der zu machenden Erdaufschüttung das Terrain dieser Friedenslinde abzusteifen oder um den Hügel eine kleine Mauer zu ziehen; denn ohne solchen Gegenhalt würde trotz geschehener Ergänzung der weggefallenen Erde nach einigen Jahren der Zustand dieser Erinnerungsstätte derselbe sein, wie heute. Wie leicht wäre hier geholfen!




Kleiner Briefkasten.

K. in B–n. Wir haben das neue Lindau’sche Stück noch nicht gesehen und deshalb kein Urtheil darüber. Nach Berliner Berichten hat es dort bei der ersten Vorstellung wenig angesprochen, wird aber trotzdem im Schauspielhause weiter aufgeführt und macht volle Häuser. Nach Dresdener Mittheilungen hat dagegen der „Erfolg“ – zweifelsohne Erfolg gehabt.

M. in Kbg. Warum nicht? Auch die Pädagogen ziehen zuweilen die Schalksjacke an. Im Jahre 1852 konnte man in Nordamerika noch einen englisch geschriebenen Leitfaden der Geographie finden, der über Deutschland nur Folgendes zu berichten hatte: Deutschland ist ein großes Land mit großen Wäldern, in denen viel Pech fabricirt wird. – Hatte der Mann bis 1870 so sehr Unrecht?




In der Verlagshandlung der „Gartenlaube“ ist so eben in einer eleganten Buch-Ausgabe erschienen:
E. Marlitt,
Die zweite Frau.
2 Bände 2 Thlr. 15 Ngr.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_782.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2023)