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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

weinen und wußte nicht, warum. Santorin war ehrgeizig, leidenschaftlich und finster. Seine Besitzung war groß, und er galt für reich und angesehen in der Umgegend; allein er wollte der Reichste und Angesehenste unter den Gutsbesitzern werden und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, sich Land und Vieh auf vortheilhafte Weise zuzulegen. Einige Jahre nach der Geburt seines Töchterchens suchte er die Verwaltung des Stifts zur Abtretung eines großen Landstriches zu bewegen, welcher an seine Besitzungen stieß. Dieser Landstrich war dem Stifte sehr nützlich, fast unentbehrlich; die Verwaltung lehnte daher Santorin’s Vorschlag ab und blieb unbeugsam, als Santorin nach einigen Monaten noch einmal und ziemlich gebieterisch die Sache in Vorschlag brachte. Von da an brach Santorin allen Umgang mit dem Stifte ab und wurde unser Feind. Er grüßte keinen der Stiftsherrn mehr; er verbot seinen Pächtern und Dienstleuten den Umgang mit den Leuten unserer Meierei; er verleumdete die Tendenz des Collegiums und suchte uns die Söhne der angesehenen dalmatischen Familien zu entziehen. Er ging in seinem Hasse und seiner Rachsucht bis zu Gewaltthätigkeiten: eines Morgens sah man seinen Sohn, einen Knaben von vierzehn Jahren, in der Nähe einer unserer Schafhürden und fand zehn Schafe darin niedergestochen. Etwas später that man es den Pferden an. Man hatte fünf Zugpferde in einer warmen Sommernacht, in einem leichten Holzverschlage angebunden, auf dem Felde gelassen. Der in der Nähe schlafende Hüter erwachte durch das entsetzliche Toben der Pferde. Als er hinzu eilte, fand er zwei der Pferde todt, die andern rasend. Er schoß sie nieder und fand in ihren Ohren brennenden Schwamm. Der Prälat ließ die Sache gerichtlich untersuchen. Man konnte Santorin oder seine Leute der That nicht überführen, obwohl Meilen weit keine andern Besitzungen als die Santorin’schen lagen und sein Wohnhaus sogar nahe dem Felde stand, wo die That begangen wurde. Allein der Proceß und der Verdacht, welcher auf seinem Namen lag, schadeten seinem Ansehen in der Umgegend. Sein Haß wurde jetzt noch ingrimmiger; doch Santorin wußte, daß er scharf beobachtet wurde, was ihn zur Vorsicht zwang und von Gewaltthätigkeiten abhielt. Eine dalmatische Rache aber schläft nie, selbst wenn sie die Augen zu hat. Santorin’s Rache that zuweilen kleine Katzensprünge, da ihr die Tigerangriffe versagt waren. Von seiner Familie hörten wir nichts mehr seit dem Tode von Santorin’s Frau, welche eine Deutsche war und während der Zwistigkeiten starb.

Ich machte häufig Ausflüge, theils um mich im Skizziren zu üben, theils um Pflanzen und Insecten zu sammeln. Als ich eines Abends bei Sonnenuntergang, nahe bei Santorin’s Gute, durch ein Wäldchen kam, hörte ich leises Wimmern. Ich ging der Stimme nach und fand ein Mädchen von acht bis neun Jahren, welches in einen Sumpf gerathen und bis an’s Knie hineingesunken war. Als die Kleine mich sah, rief sie:

‚Herr, Herr, ach hilf mir!‘

Ich zog sie aus dem Sumpfe und fragte, wie sie heiße.

‚Mariana Santorin,‘ sagte sie.

Ich fragte, ob sie die Tochter des Gutsherrn Santorin sei.

‚Ja, Herr,‘ antwortete sie. ‚Mein Vater wohnt nicht weit von hier.‘

Auf meine Frage, wie sie in den Sumpf gerathen war, erwiderte sie:

,Ich liebe die Bäume; ich komme oft her, um sie auswendig zu lernen, damit ich sie zu Hause zeichnen kann.‘

Ich öffnete mein Skizzenbuch und bat die Kleine, mir einen Baum hineinzuzeichnen. Sie blickte einen Augenblick auf eine meiner Skizzen und sagte: ‚Du machst lauter kleine Bäume, Herr; ich kann solche kleine Bäume nicht leiden.‘ Dann machte sie zwei kräftige Striche in großer Entfernung, einen oben und einen unten.

‚Sieh, Herr,‘ sagte sie, ‚der Strich oben ist der Himmel und der unten die Erde, und dazwischen hinein zeichne ich meine Bäume. Die Wurzeln gehen in die Erde, und die Spitze stößt an den Himmel.‘

In wenigen Secunden hatte sie mit groben, aber sichern Strichen eine Tanne gezeichnet, wie sie in Norwegen, aber nicht in Dalmatien zu finden ist: groß, breit, voll, ernst und ausdrucksvoll. Sie war mit einem so wahren Naturgefühle gezeichnet, daß ich bei mir dachte: ich möchte diesem Kinde Unterricht geben. Sie sagte mir, es helfe ihr Niemand beim Zeichnen, und es kümmere sich auch Niemand zu Hause darum. Ich nahm das Kind an der Hand, um es nach Hause zu führen; bald fühlte ich an seinen schwankenden Schritten, daß seine Füßchen im Sumpfe schwer und müde geworden waren. Ich hob es auf meinen Arm und trug es bis zu Santorin’s Hause. Vor der Thür saß eine Frau und spann; ich übergab ihr das Kind und erzählte ihr mit kurzen Worten, wo und wie ich es gefunden hatte. Sie dankte mir mit finsterm, verdrossenem Tone, einen langen Blick auf mein Gewand werfend, welches den Stiftsherrn erkennen ließ. Die Kleine küßte mir die Hand und sagte: ‚Herr, ich danke Dir. Du bist sehr gut gegen mich gewesen. Wie heißt Du?‘

Ich sagte ihr meinen Namen und ermunterte sie, fleißig zu zeichnen. Dies war das einzige Mal, daß ich Santorin’s Töchterchen sah. Als ich einige Wochen darauf Santorin’s Sohn im Felde begegnete, hetzte er seinen Hund auf mich. Ich fragte ihn, warum er dies thue?

‚Weil Du meine Schwester auf den Armen getragen hast,‘ antwortete er. ‚Du solltest mir dafür danken,‘ sagte ich, ‚denn Deine Schwester war müde.‘ ‚Ich wollte lieber, daß sie im Sumpfe erstickt wäre, als daß ein Stifsherr von Constantin sie berührt hat,‘ erwiderte er und hetzte auf’s Neue den Hund auf mich. Ich schlug diesem mit meinem Stocke über den Rücken, ließ den wüthenden Jungen toben und ging meines Weges.

Nach und nach schenkte man im Stifte den ohnmächtigen Rache-Ausbrüchen der Santorin keine Aufmerksamkeit mehr, und selten nur nannte man ihren Namen. Jahre vergingen; ich hatte meine Reisen gemacht und war nach Constantin zurückgekommen. Der Stiftsherr Samuel starb, und die Leitung der Malerschule wurde auf mich übertragen. Vor zwei Jahren starb der Gutsherr Santorin. Sein Sohn verkaufte die Güter und zog mit seiner Schwester fort. Wir wußten nicht, wohin sie gegangen, und kümmerten uns auch nicht darum. Sehen Sie, der Gedanke, daß ich neben einem Wesen, welches die Gottheit für mich schuf, achtzehn Jahre lang in unwissender Gleichgültigkeit gelebt habe – dieser Gedanke könnte mich wahnsinnig machen.“ Bodiwil vergrub seinen Kopf in beide Hände und schwieg.

Ich entgegnete nichts, denn ich begriff die furchtbare Bitterkeit seines Gedankens.

„Der Fürst Ap.,“ fuhr er nach einer Weile fort, „kam im vorigen Herbste nach Constantin. Ich mußte ihm versprechen, ihn in W. zu besuchen. Ende December reiste ich ab; der Prälat gab mir einen Urlaub von drei Monaten. Der Fürst hatte alle erdenklichen Aufmerksamkeiten für mich. Da er meinen Hang zur Einsamkeit kannte, hatte er ein Häuschen am Ende seines Gartens für mich einrichten lassen; es war in maurischem Stile erbaut und enthielt mehrere Zimmer und ein großes Atelier. Ein Diener, welcher die Zimmer in Ordnung hielt, war die einzige Person, welche mit mir das Häuschen bewohnte. Der Fürst ging oft in Gesellschaft, und nur um ihm gefällig zu sein, ging ich mit. Ich war durch die Bilder, welche ich dem Fürsten zum Geschenke gemacht und die er vor meiner Ankunft ausgestellt hatte, für Manche ein Gegenstand der Neugierde und empfing zuweilen Besuche in meinem Atelier, namentlich Besuche von Damen. Es konnte mich also nicht befremden, als eines Vormittags mein Diener wieder eine Dame bei mir anmeldete. Ich ließ sie bitten, einzutreten. Gott, wie war sie verschieden von den andern! Sie trug ein einfaches schwarzes Seidenkleid und hielt eine Mappe an einem Bändchen. Sie schien kaum achtzehn Jahre alt zu sein; ihr Gesicht war blaß, süß und ernst. Sie blieb an der Thür stehen und sagte: ‚Verzeihen Sie, daß ich Sie störe und es wage, ohne Empfehlung zu Ihnen zu kommen!‘

Ich bat sie, sich zu setzen und fragte, ihr die Mappe abnehmend, was mir die Ehre ihres Besuches verschaffe.

‚Ich bin Mariana Santorin,‘ sagte sie.

‚Santorin?‘ wiederholte ich, mich besinnend.

‚Ja,‘ sprach sie, ‚die kleine Santorin, welche Sie vor zehn Jahren aus einem Sumpfe zogen.‘

‚Wie?‘ rief ich, ‚Mariana Santorin besucht den Stiftsherrn von Constantin? Das beweist viel Selbstüberwindung.‘

‚Vielleicht auch nicht,‘ erwiderte sie. ‚Ich komme nicht, um Ihnen einen Gegendienst zu erweisen, sondern um eine Gunst

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_801.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)