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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Bodiwil schwieg hier und drückte sein Angesicht in das Kissen, auf dem Mariana’s sterbendes Haupt gelegen. Ich überließ ihn einige Zeit sich selbst; dann richtete ich ihn auf. „Reden Sie weiter!“ bat ich, „erschöpfen Sie sich ganz. Es wird Ihnen wohl thun.“

„Am nächsten Morgen,“ fuhr Bodiwil fort, „kam sie zur gewöhnlichen Stunde. Sie erzählte mir, daß sie eine Unterredung mit ihrem Bruder gehabt, in welcher sie ihm erklärte, daß es ihr Wille sei, den Unterricht bei mir fortzusetzen, und daß ihr Wille unbeugsam sei. ‚Warum mußt Du gerade bei Bodiwil lernen?‘ fragte er sie. Sie sagte ihm, ich sei der einzige Lehrer, welcher sie nach ihrer eigenen Gefühlsweise malen lasse. Dann fragte er sie, warum sie denn überhaupt noch lernen wolle, da sie doch bald sterben zu müssen glaube. Sie antwortete ihm: ‚Deine Leidenschaft ist die Jagd; die meinige ist, eine geistige That zu thun, ehe ich sterbe.‘ Als er ihr zum Vorwurf machte, daß sie den Haß ihres Vaters und ihres Bruders zu wenig ehre, und hinzusetzte: ‚Vielleicht empfindest Du für den Stiftsherrn von Constantin das Gegentheil von Haß,‘ antwortete sie ihm: sie sei nicht verpflichtet einen Haß zu ehren, den sie für höchst ungerecht halte. Als sie ihn noch immer unbeugsam fand, erklärte sie ihm, daß, sollte er sich eine Gewaltthätigkeit gegen sie erlauben, sie sich unter den Schutz des Gerichtes stellen werde. ‚Verheirathe Dich, schmiede Dein Eisen und laß mich ruhig sterben!‘ sagte sie ihm. Er verließ sie, einen Fluch zwischen den Lippen murmelnd. Von diesem Tage an fühlte ich, daß die Zigeunerin wahr gesprochen hatte, und ich sah das Schicksal heran kommen.

Mariana las stets meine Gedanken; oft sagte sie: ‚Warum denkst Du immer daran und quälst Dich damit? Laß das Unvermeidliche doch ruhig heran kommen!‘ Oft auch klammerte sie sich an mich und sagte: ‚Hör’ auf zu arbeiten, sieh mich an, sprich mit mir! Je mehr Dein Herz von mir erfüllt ist, desto seliger sterbe ich, denn ich bin und bleibe dann in Dir.‘

Mein Urlaub ging indeß zu Ende; gleichzeitig näherte sich der Hochzeitstag Santorin’s. Mariana und ihre künftige Schwägerin waren sich nicht sympathisch. Mariana gab ihrem Bruder gegenüber vor, nach Italien zu gehen, um sich in der Malerei weiter auszubilden; in Wahrheit aber wollte sie nach Dalmatien zurückkehren und sich in der Nähe des Stiftes niederlassen. Ich besuchte Mariana nie in ihrer Wohnung in W., des Bruders wegen. Sie kam täglich, beim heftigsten Regen und in der grimmigsten Kälte. Oft waren ihre Hände und Füße, wenn sie kam, so kalt und steif, daß sie eine Stunde brauchte, um sich zu erwärmen. Gegen Ende des Monats März kam eines Morgens statt ihrer selbst ein Brief. Sie schrieb mir, sie habe sich stark erkältet und werde wohl für einige Tage nicht ausgehen können. Ihr Bruder gehe am Nachmittage des nächsten Tages auf die Jagd; sie bitte mich, Abends zu ihr zu kommen.

Meine Folter während der beiden Tage war grenzenlos. Die Zeit schien stille zu stehen. Gott, wie war es lange bis morgen Abend! Endlich kam die Stunde. Ich flog zu Marianen. Es war viel Schnee gefallen und fiel noch. Menschen und Pferde gingen geräuschlos, und nur das Klingeln eines Schlittens war zuweilen zu hören. Es war alles so still, so weiß, so weich. Es war etwas süß Einlullendes in den Flocken, wie sie dicht und unaufhaltsam herab kamen. Ich hatte ein Gefühl von Wonne, die mir neu war. Wie ein Trunkener hielt ich mich an der Pforte ihres Hauses, ehe ich die Klingel zog. Eine Frau, Mariana’s Amme, öffnete mir und führte mich, nachdem ich ihr meinen Namen genannt, in Mariana’s Wohnstube. Als ich eintrat, flog Mariana mit einem Schrei vom Lehnstuhle, in welchem sie gesessen, in meine Arme. Mir schwanden die Sinne; nur zwei Dinge fühlte ich noch: Mariana’s seidene Hand, die mir sanft über Stirn und Wangen glitt, und ihr Herz, das ungestüm gegen meine Brust klopfte. Als ich zu mir selbst kam, saß sie im Fauteuil, und ich lag auf den Knieen vor ihr. Das röthliche Licht einer Lampe fiel auf ihr Gesicht, welches eine Glückseligkeit ausdrückte, die ihr eine übermenschliche Schönheit verlieh. Lassen Sie mich schweigen von dieser Stunde, aber hören Sie ihr Ende, ihr schreckenvolles, unseliges Ende!

Mariana’s Wohnung lag im Erdgeschosse; darüber waren zwei Stockwerke, von Leuten bewohnt, die Mariana nicht kannte. Wir plauderten selig; plötzlich hörte ich, daß die Hausthür von außen geöffnet wurde. Erschrocken fuhr ich auf. Mariana sagte beruhigend: ‚Es ist Jemand von Oben; es geht uns nichts an‘; sie schlang ihren Arm um meinen Hals und legte meinen Kopf an ihre Schulter. Im Vorzimmer saß Christina, allein. Da sie die Nacht zuvor bei Mariana gewacht hatte, war sie eingeschlafen und hörte nicht, daß Einer eintrat. Auch trat er vorsichtig ein und leise wie eine Katze, denn wir selbst hörten ihn nicht. Mit einem Male öffnete sich die Thür zu Mariana’s Zimmer, und Julian Santorin stand vor uns. Ich sprang auf; Mariana blieb ruhig in ihrem Fauteuil sitzen, den Blick fest auf ihren Bruder geheftet. Dieser sagte mit kaltem Lächeln: ‚Mariana Santorin bezahlt dem Stiftsherrn die Lectionen mit süßer Münze.‘

Ich versetzte: ‚Der Stiftsherr läßt sich seine Lectionen mit keinerlei Münze bezahlen; allein er nimmt sich die Freiheit, seine kranke Schülerin zu besuchen –‘

‚Und ihr die am Morgen versäumte Lection am Abend zu geben,‘ fiel mir Santorin höhnisch in’s Wort.

Christina kam herbei und wollte Santorin beschwichtigen; er schob sie rauh zur Seite. Mariana erhob sich, that einen Schritt gegen ihren Bruder und fragte: ‚Warum ist Julian Santorin nicht auf die Jagd gegangen, wie er vorgab?‘

‚Weil er ein Wild hier in der Nähe witterte,‘ sprach er, einen drohenden Blick auf mich werfend.

‚Ich glaubte nicht,‘ versetzte ich, ‚daß ein ehrlicher Jäger das Wild bis in das Zimmer einer kranken Frau verfolgen würde.‘

‚Ein Santorin jagt, wo er will,‘ rief Julian, indem er ein Jagdmesser unter seiner Weste hervorzog und auf mich zustürzte. Mariana, schneller als er, warf sich zwischen ihn und mich; aber der vor Wuth Unsinnige stach ihr sein Messer in die Brust. Als Mariana aufschrie, that er über ihre Schulter hinweg einen Stich in meinen Arm. Christine riß ihn zurück; er taumelte, und das Messer entfiel seiner Hand. Sie hob es auf und wollte Mariana hinwegtragen. Allein jetzt geschah etwas, was ich heute noch für unmöglich halten würde, hätte ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Vom Fieber und vom Heldenmuthe mit doppelter Kraft beseelt, umfaßte Mariana ihren Bruder mit beiden Armen und trug ihn durch zwei Zimmer hindurch in seine Schlafstube, wo sie ihn einschloß. Dann rief sie ihm durch die Thür zu: ‚Julian Santorin, Du weißt, daß, wenn einem Dalmatier der Schimpf geschah, von einer Frau auf den Armen hinweg getragen zu werden, so darf er mit dieser Frau nichts mehr gemein haben und muß sie meiden, bis an sein Ende, wäre sie auch seine Mutter, seine Schwester oder Frau.“

Santorin brüllte und schlug mit der Faust auf den Tisch. Mariana war von Blut übergossen; sie ließ sich von mir auf ihr Bett tragen, wo sie bewußtlos zusammenbrach. – Sie hatte jetzt die Wunde in der Brust; die Wunde im Herzen hatte sie auch – ich fühlte das Ende kommen. – –

Ihre Wunde war nicht tödtlich, aber schwierig. Vierzehn Tage nach diesem Ereignisse stand sie zum ersten Male auf, obschon das Fieber sie noch nicht verlassen hatte. Santorin hatte am Tage nach dem schauderhaften Ereignisse das Haus verlassen und ließ nichts von sich hören; wir vermutheten ihn in Mähren.

Mariana war von jetzt an wie verwandelt. Sie sprach mehr und schwungvoller als früher, und in ihrer Stimme zitterte eine hinreißende Innigkeit. Sie war wie ein junger Adler, dem die Flügel wachsen und der die Stunde kommen fühlt, wo er der Sonne entgegenfliegen wird. Die Gedanken über Kunst, Liebe und Ewigkeit strömten ihr so reichlich zu, daß sie täglich schrieb, um sich zu erleichtern, wie sie sagte. Sie gab mir jeden Abend, was sie den Tag über geschrieben hatte. Es war sie selbst: voll Geist und voll Empfindung, groß, feurig und tiefsinnig; es war anders, als alles Andere, was ich kannte. Sie zog mich in ihre wunderbare Atmosphäre; ich ward darin ein Gott – heute bin ich ein Bettler. –

Mein Urlaub war zu Ende; eine Trennung von vier Wochen war unumgänglich nothwendig, da der Arzt erklärte, Mariana könne eine Reise nicht eher wagen. Am Abend vor meiner Abreise sagte Mariana:

‚Höre mich, Bodiwil! Wüßte ich nicht, daß ich bald sterben werde, so würde ich Dir nicht nach Dalmatien folgen. Ich würde Dir sagen: Brauchst Du mich zu Deinem Glück, so mache Dich frei, brauchst Du mich nicht, so bleibe ein Mönch und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_817.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)