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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

und unsere Papiere und sagten uns dann gute Nacht. Als Bodiwil unter der Thür stand, wandte er sich noch einmal um und fragte:

„Wann müssen wir morgen bereit sein?“

„Um sieben Uhr,“ sagte ich.

„Gut,“ versetzte er und schloß die Thür hinter sich.

Ich war müde. Nach einem prüfenden Blick an den Himmel, der trüb und wolkig war und kein schönes Reisewetter versprach, legte ich mich nieder. Die Stiftsuhr schlug zwölf; ich zählte die Schläge mechanisch nach und schlief ein.

Als ich am Morgen erwachte, war es nicht ganz fünf Uhr. Ich hörte das Knarren einer Thür im Gange draußen und schnelle Schritte auf der Treppe. Nachdem ich noch eine halbe Stunde im Halbschlummer liegen geblieben, stand ich auf und kleidete mich an. Ich öffnete das Fenster; die frische, fast kalte Herbstluft wehte mir entgegen und gab mir eine angenehme Empfindung von hoffnungsvoller Fröhlichkeit. Ein leichter Nebel lag über dem Moor. Am Himmel zog grauweißes Gewölke hin, durch welches die

Die Macht der Thränen.
Originalzeichnung von Professor Thumann.

Sonne zuweilen einen Strahl niederfallen ließ, und dann schimmerte der Nebel wie flüssiges Silber.

Man klopfte an meiner Thür; es war ein Küchenjunge, der mich zum Frühstück in’s Refectorium hinab rief. Ich blickte auf meine Uhr. Es war fünf Minuten über sechs. Indem ich den Gang durchschritt, sah ich die Thür von Bodiwil’s Zimmer halb offen. Ich trat unter die Thür und rief: „Bodiwil, ich gehe in’s Refectorium hinunter.“

Da ich keine Antwort erhielt, dachte ich, er sei schon unten. Allein ich fand ihn nicht im Refectorium und wartete einige Minuten vergebens auf ihn. Ich ging in Bodiwil’s Zimmer zurück; er war nicht darin, auch nicht im Atelier. Auf’s Höchste unruhig, ging ich in’s Refectorium zurück, rief den Küchenjungen und fragte ihn, ob er Bodiwil nicht gesehen habe. Er sagte mir, er habe schon vor fünf Uhr den Stiftsherrn die Treppe herunter kommen sehen; der Stiftsherr habe ihm zugerufen, das Frühstück auf sechs Uhr bereit zu halten, und sei dann durch die kleine Pforte in’s Freie gegangen. Dies beruhigte mich.

Ich dachte mir, Bodiwil werde noch einmal in’s Häuschen auf dem Hügel gegangen sein. Er hatte das Frühstück selbst auf sechs Uhr bestellt, konnte also jeden Augenblick zurückkommen. Ich setzte mich und frühstückte; von Zeit zu Zeit blickte ich auf die Uhr. Als es halb sieben Uhr war, beschloß ich, Bodiwil zu holen, vermutend, daß er die Zeit vergessen habe.

Auf der Straße überfiel mich auf’s Neue eine Bangigkeit. Das Gras am Wege zitterte in der kühlen Herbstluft, und bleiche Nebel walleten schwermüthig über das Moor. Ich hatte halb und halb erwartet, Bodiwil auf der Straße zu begegnen, und mit jeder Minute wuchs meine Angst. Zuweilen schoß mir eine heiße Blutwelle jäh zu Kopf.

Ich fand die Hausthür angelehnt und die Thür zum Vorzimmer offen. Als ich dasselbe durchschritten, klopfte ich an der Thür zu Mariana’s Zimmer. Ich blickte durch’s Schlüsselloch; es stak kein Schlüssel darin. Ich rief Bodiwil’s Namen und blieb ohne Antwort. Christinens Bruder schlief in der Mansarde; ich ging hinauf, um nach Bodiwil zu fragen – die Mansarde war leer. „Bodiwil ist wahrscheinlich im Tannengrunde,“ dachte ich und eilte hinunter. Auch dort war er nicht. Mariana’s Grab lag einsam in der Morgenstille und war mit einem frischen Tannenzweige zugedeckt.

Es war mir, als ob eine eisige Hand mir das Herz zerdrückte – von Todesangst gefoltert eilte ich zum Hause zurück. Im Gemüsegarten fand ich Christinens Bruder, von welchem ich erfuhr, daß Bodiwil am verflossenen Abende zu Christinen gesagt, er werde früh Morgens noch einmal kommen, sie solle daher nicht unruhig werden, wenn sie Geräusch höre, sondern ruhig weiter schlafen. Er selbst, Christinens Bruder, sei schon um drei Uhr in einen Torfstich gegangen, und komme eben nach Hause. Ich bat ihn um einen Schlüssel, der Mariana’s Zimmer öffne. Er folgte mir; ich schloß die Thür auf und öffnete sie. – Barmherziger Gott! – Bodiwil lag in einer furchtbaren Blutlache, mit dem Gesichte an der Erde. Ich hob ihn auf; sein Haupt fiel schwer auf die Brust herab – er war todt.

Ich raffte, was mir an Kraft noch blieb, zusammen und entkleidete ihn. Er hatte zwei Wunden im Rücken und eine in der Seite.

Ich hatte noch nie so etwas Entsetzliches gesehen und hatte noch nie einen Bodiwil verloren; kalter Schweiß bedeckte mich, und der Jammer übermannte mich. Als ich mich wieder kräftiger fühlte, legten Christine und ich den Leichnam auf den Divan. Sein Haupt ruhte, wo das Mariana’s geruht hatte. Ich trat zu ihm hin, küßte ihm Stirn und Hände und netzte sie mit leidenschaftlichen Thränen.

Plötzlich, von einer unwillkürlichen Bewegung getrieben, trat ich vor den Vorhang, welcher das Zimmer theilte; ich öffnete ihn und blickte auf Bodiwil’s Bild – es war in Fetzen zerschnitten. Ich erschrak so heftig, daß ich mich am Fußende des Bettes mit beiden Händen festhalten mußte. Da hörte ich etwas zwischen dem Bette und der Wand zu Boden fallen. Mit einem Ruck entfernte ich das Bett von der Wand und fand einen Dolch an der Erde. Bodiwil’s Blut klebte daran – ich hob ihn schaudernd auf und forschte in den Arabesken des Griffs mit gierigen Augen. Ich fand, was ich geahnt hatte, die Buchstaben J. S.

Sofort fuhr ich auf einem Leiterwagen zum nächsten Städtchen, wo ich dem Schultheiß Bericht über das Geschehene erstattete und den Dolch als einen Beweis gegen Julian Santorin niederlegte.

Die Gerichtsbarkeit in Dalmatien ist oder war damals von so trauriger Beschaffenheit, daß ich voraus sah, es werde die Ermordung Bodiwil’s nicht gesühnt werden. Selbst die Würde des Prälaten, das Ansehen des Stifts und die Entrüstung der Umgegend blieben diesem Mangel an einer geordneten und tüchtigen Gerichtsbarkeit gegenüber machtlos. Julian Santorin wurde nicht aufgefunden, und Bodiwil blieb ungerächt.

Nachdem ich in’s Stift zurückgekehrt war und dem Prälaten das Furchtbare mitgetheilt hatte, ging ich zur Leiche Bodiwil’s

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_819.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)