Seite:Die Gartenlaube (1875) 001.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


No. 1.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.




Zum neuen Jahr.

Um’s Fenster rauscht der Schnee. In dem Gemach
Wie ist’s so abendstill! Mit mir allein,
Das Haupt gestützt, sinn’ ich Vergang’nem nach
Und blätt’re lässig bei der Lampe Schein

5
In ferner Vorzeit dunkelen Geschichten.

Ach, was ich längst im Herzen sargte ein,
Umdämmert mich in wechselnden Gesichten –
Im Glas verduftet der Champagnerwein.
– Der Wächter ruft – es hat mich wundersacht

10
Auf leisen Sohlen überrascht die Nacht.


Horch! plötzlich welch’ ein festliches Geläute!
In meine Klause klingt der Glocke Schall.
O, wie mich das bewegt! Ist’s Festtag heute?
Nun tönt’s von allen Thürmen, Hall auf Hall,

15
Und wächst, ein Meer, und schwillt mit Macht, mit Macht -

Du bist es, heilige Sylvesternacht.

Das Fenster auf! Herein, du Winterluft!
Da liegen sie, die schneebedeckten Auen.
Welch’ holde Luft, beschwingten Blicks zu schauen

20
Hin über Wald und Wiese, Berg und Kluft!

Von jedem Heerde steigt empor der Rauch,
So weit sich Stätten rings der Menschen dehnen.
Die Brust wird weit – o namenloses Sehnen!
Vom Geist der Menschheit fühl’ ich einen Hauch.

25
Herbei denn, Rebenblut, du perlend Naß!

Der ganzen Menschheit dieses volle Glas!
Ich setz’ es an; ich trink’ es schäumend aus –
Und werf’ es klirrend in die Nacht hinaus.
Da schwingt vom Schneegefilde sich ein scheuer

30
Nachtvogel in den Winterhimmel auf.

O, sei ein Flügelbote mir, ein treuer,
Und trag’ zu Gott mein brünstig Fleh’n hinauf!
Komm’, Himmelssegen, komm’ auf diese Erde
Und gieb uns Maß im Glück, im Unglück Kraft,

35
Des Friedens Fittig über’m stillen Heerde,

Zu gutem Werk die rechte Leidenschaft,
Gefaßten Sinn in Noth und Todespein,
Im Kampf Beharren, Hoffnung bis zur Bahre
Und allem Guten Wachsthum und Gedeih’n!

40
Und Eines noch: In Lüften frei und rein

Den Sonnenflug dem jungen deutschen Aare!
Das walte Gott in diesem neuen Jahre!
                                             Ernst Ziel.




Das Capital.
Erzählung von Levin Schücking.
1.

Der Fluß, an welchem unsere Geschichte spielt und auf dessen zahlreichen festgemauerten Brücken und leichtgezimmerten Plankenstegen sich ein reges Leben entwickelte, war von allerlei schmutzigen Wassern, welche aus den naheliegenden weitausgedehnten Fabrikanlagen sich in ihn ergossen, trübe gefärbt. Sie verdarben sein reines klares Bergwasser und gaben ihm die häßliche laue Wärme, die sich an kalten Morgen und Abenden in dem leichten grauen Dampfe zeigte, der über den aus Steingeröll und zwischen Felsbrocken dahinschießenden Wassern leise aufwärts zog.

Und wie den Fluß, so hatten die gewaltigen weithin sich erstreckenden Fabrikgebäude mit ihren öden kahlen Ziegelsteinmauern, mit ihren noch öderen und kahleren Ziegeldächern und ihren langweiligen Essen, mit ihrem qualmenden Rauche und ihrer abscheulichen Umgebung von höher und höher wachsenden Schlackenaufschüttungen die landschaftliche Schönheit des einst in seinem Waldkranze so sonnig und friedlich daliegenden Thals verdorben. Rund um sie her war der alte stattliche Bauerhof wie die kleine ländliche Siedelung, die sich mit ihrem warmen Strohdach unter den Wipfeln alter grauer Eichen barg, verschwunden. In weitem Bereich standen zahllose Arbeiterwohnungen, für viele Familien zugleich berechnet, umher und entwickelten mit ihrer melancholischen Verkommenheit eine stumme und herzbrechende Beredsamkeit für die socialistischen Ideen, die bis jetzt leider nur ihre Insassen vielfach wirre und confus gemacht, aber nicht dazu beigetragen hatten, diese Häuser reinlicher, ihre Umgebung fleißiger gepflegt und ordentlicher zu machen, oder die Leute auf den Gedanken zu bringen, daß zerbrochene Scheiben, statt durch vorgeklebtes Papier oder durch zusammengeballte Lumpen, zweckmäßiger durch neues Glas ersetzt würden.

Nur drüben an der anderen, der linken Seite des Flusses lagen auf den niedrigen Vorhügeln des mäßig hohen Waldgebirges noch einzelne der alten Höfe der ursprünglichen Sassen, die einst das ganze Thal beherrschten, bevor die Entdeckung bedeutender Bodenschätze in der Nähe großer und unschwer zu verwerthender Wasserkraft die Industrie herbeigezogen hatte. Hier lag auch ein hübsches kleines Haus mit einem wohlgepflegten Garten davor,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_001.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)