Seite:Die Gartenlaube (1875) 003.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Sie stand auf, und als ob es sie nicht mehr an einer Stelle ruhen lasse, schritt sie mit allen Zeichen heftigster Erregung auf dem langen Pfade auf und ab, der zwischen den Anlagen und der sie umgebenden Mauer, durch Gebüsch verdeckt, dahin lief.

Nach einer Weile kam ihr hier ein hübscher Knabe von etwa zwölf Jahren mit wehendem blondem Haare entgegengelaufen, der sich ungestüm an ihre Brust warf und dann weiter eilen wollte.

Sie ergriff seine Hand und hielt ihn fest.

„Wohin, wohin so stürmisch, Karl?“

„Ich will sehen, wieviel Erdbeeren gereift sind; ich will Herrn Landeck davon bringen – er liebt sie.“

„Ist denn die Unterrichtsstunde schon zu Ende?“

„Gewiß, es ist fünf Uhr, und Herr Landeck ist nach Haldenwang gegangen.“

„Schon wieder nach Haldenwang?“

„Ja, zu Cousine Malwine; gehen wir nicht auch einmal zu ihr, Elisabeth?“

„Er war, denk’ ich, noch vor wenigen Tagen dort,“ bemerkte Elisabeth, ohne die Frage zu beantworten.

„Noch vorgestern,“ versetzte Karl; „er hat ja, weißt Du, in Griechenland gelebt, und Du glaubst nicht, wie hübsch er mir davon erzählt. Und er wird mit der Cousine Malwine, die auch dort war, davon reden wollen.“

„Freilich, er wird mit ihr von dem, was sie nun beide kennen, reden wollen,“ entgegnete Elisabeth mit einem flüchtigen ironischen Lächeln, indem sie die Hand ihres Bruders losließ, der zu seinen Erdbeeren davonlief.

„Der elegante Herr Landeck,“ sagte sie sich dann bitter lächelnd, „scheint also auch in den Fesseln der schönen Cousine zu liegen – hat ihn am Ende ganz etwas Anderes in diese Gegend geführt, als die Absicht, Karl’s Erziehung zu leiten, wie wir gutmüthig genug glauben?“

Dabei blieb sie stehen, und mit einem eigenthümlichen Ausdrucke von Schmerz und Zorn blickte sie über die Parkmauer fort auf den drüben jenseits des Flusses liegenden malerischen Edelhof am Walde mit der wehenden Fahne darauf. –




2.

Trotz der Gefahren, die das „Capital“ der Feudalität da oben etwa hätte prophezeien können, flatterte noch heute die Fahne sehr lustig auf dem Edelhofe; sie wehte hoch genug, um in anmuthig bewegtem Spiele ihre Falten dahin fließen zu lassen, und unten am Fuße des Thurmes, auf dessen Höhe sie dieses coquette Spiel trieb, erging sich die Feudalität in heitersten Gesprächen unter einem schönen, von wildem Wein überzogenen, von leichtem Eisengußwerke angerichteten vorhallenartigen Bau, der, über mehrere Treppenstufen erhöht, vor den Sommergemächern des unteren Stockes lag.

Es war eine junge Frau in Trauerkleidern, um welche sich die übrige Gesellschaft wie um ihren Mittelpunkt gereiht hatte, und die doch noch viel zu jugendlich anziehend, viel zu sonnig-heiter, viel zu strahlend aussah, um ihre Aufgabe, ernste Feudalität zu vertreten, mit dem rechten Geschick lösen zu können. Es hätte dazu eines düsteren gestrengen Ritters als Gemahls, eines grauen Burgvogts oder wenigstens einer sauer dreinschauenden Duenna neben ihr bedurft. Gestalten solch würdevoller Art aber fehlten gänzlich. Die Gesellschaft bestand aus sehr modernen Leuten, aus einem etwa sechsunddreißig Jahre alten Herrn in Civil, der aber mit seinem dunklen Schnurrbarte, seinem kurzgeschorenen Haare, seiner ganzen Haltung, einen sehr militärischen Eindruck machte, einem zweiten Herrn in demselben Alter etwa und durchaus nicht militärisch, sondern mit seiner angenehmen Fülle und seinem harmlosen Wesen sehr bürgerlich aussehend, und endlich aus einem dritten, jüngern Manne von noch nicht dreißig Jahren mit einem höchst ausdrucksvollen Kopfe. Er hatte eine hohe gedankenreiche Stirn, „schön gereimte“ und stolze Lippen und ein Wesen, daß man ihn am ersten für einen Diplomaten oder einen der bessern Gesellschaft angehörenden Künstler gehalten hätte. Neben dieser um einen runden Tisch versammelten Gesellschaft stand an einem „stummen Diener“ im Hintergrunde ein schlankes junges Wesen, beschäftigt mit Hülfe eines Lakaien in Livree, der ab und zu ging, den Herrschaften den Thee zu bereiten.

„Ihnen, Doctor,“ hatte sich die junge Frau in Schwarz eben dem behäbigen, wohlgenährten Manne zugewendet, „Ihnen soll ich einmal zum Amüsement etwas vorsingen? Was Sie sich einbilden! Ich werde meine gute Lini bitten, daß sie hineingeht und Ihnen einige Chopin’sche Notturnos oder etwas dem Aehnliches vorspielt, wenn Sie nach Musik dürsten. Unterdeß werde ich den Vortheil haben, daß Sie, aus Höflichkeit schweigend zuhören müssen und mich nicht durch Ihre gräulichen Krankengeschichten quälen dürfen.“

„Aber das ist sehr grausam von Ihnen, Frau Baronin,“ versetzte der Doctor, „da ich Sie nie singen hörte. Es ist auch unvorsichtig von Ihnen, mich durch solche Grausamkeit zu reizen. Wenn ich Ihnen nun zur Strafe bei Ihrem nächsten Migräneanfall die Medicin so einrichtete, daß Sie eine volle halbe Stunde länger harren müßten, bevor die Schmerzen Sie verließen?“

„Ah – das könnten Sie? Welche Giftmischer Ihr Alle seid!“ lachte der militärisch aussehende Herr mit einer unangenehm scharfen Stimme auf – es war viel Metall in der Stimme, aber dieses Metall war zu sehr Schneidigem, Spitzem verarbeitet.

„Ob ich es könnte? Gewiß – je nachdem ich die Dosen meines Recepts bestimmte, könnte ich es, Herr von Maiwand.“

„Es ist wahr,“ sagte jetzt die Baronin, plötzlich sehr ernst, „es ist Euch Leuten eine furchtbare Macht gegeben, und es kommt mir dabei der Gedanke, wie erschreckend viel von unserm Glück, von unserm Wohlsein, von unserm Lebenkönnen abhängt von der Güte anderer Menschen – von dem Nichtgebrauch der Macht, die sie über uns haben. Wie sind wir wehrlos in die Hände solch eines Arztes gegeben! oder jedes Briefboten, dem es einfiele, einen wichtigen Brief in den Ofen zu stecken, statt sich die Mühe zu machen, ihn uns zu bringen! Wie könnten wir uns nach keiner Seite hin bewegen, nichts thun, nichts ausführen, wenn nicht alle die Menschen, deren wir bedürfen, auch die Ehrlichkeit hätten, zu thun, was wir voraussetzen, daß sie thun werden! Wenn man sich das vorstellt, sieht man ein, wie das ganze Leben auf Ehrlichkeit und Güte beruht.“

„Von dieser allgemeinen Güte der Menschen möchte ich doch nicht gerade viel Wesens machen,“ fiel hier der jüngere Mann ein, „sie sind eben gezwungen, verträglich, ehrlich und gut zu sein, weil sonst die Welt einstürzen und sie mit sich begraben würde. Was ich,“ setzte er mit einem Anflug von Ironie hinzu, „mehr als diesen allgemeinen Nichtgebrauch ihrer Macht, uns schaden zu können, wegen dessen Sie die Menschen loben, was ich mehr als das verehre, ist bei schönen Frauen der Nichtgebrauch ihrer Macht.“

„Weil er seltener ist?“ fragte lächelnd der Doctor.

„Weil das Gegentheil ungestrafter bleibt und mehr Unheil anrichtet.“

„Ach, das ist boshaft,“ sagte die Baronin.

„Nur wahr! Was ist ein Streich, den mir die Unehrlichkeit der Menschen spielt, gegen mein herzbrechendes Leid, wenn eine schöne Frau es darauf anlegt, mich unglücklich zu machen! Und davon kann wirklich nur die Güte ihrer Natur sie abhalten; denn für sie giebt es, wenn sie anders handelt, keine Strafe.“

„Doch – mitunter doch!“ rief hier Herr von Maiwand aus, „es giebt doch auch Männer, die nicht ungestraft mit sich coquettiren lassen.“

Die Dame vom Hause warf hier einen eigenthümlichen Seitenblick auf den Mann, der diese Bemerkung gemacht hatte; war es ein Ausdruck von Verachtung oder von Herausforderung, was um ihre feinen rosigen Lippen zuckte? Etwas von beiden war es.

„Es ist nicht hübsch, was Sie sagen, Herr Landeck,“ antwortete sie dann. „Ein so selbstsicherer und weiser Mann muß nur reden, wie er denkt. Und Sie denken nicht daran, daß eine Coquette, wie Herr von Maiwand sich unverblümt ausdrückt, Ihnen je ein herzbrechendes Leid zufügen könnte.“

„Ich danke Ihnen, daß Sie mich für so gefeit ansehen,“ versetzte Landeck. „Doch fühle ich mich durchaus nicht so hochmüthig sicher. Wer durchschaut sofort, ob die Huld einer Frau ernst gemeint oder Coquetterie ist? Wir Männer sind den Frauen gegenüber nun einmal gläubige Seelen; auch in die Kälteste, Härteste legen wir unser eigenes Gefühlsleben hinein, unser eigenes Gemüth …“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_003.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)