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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

einen Brief von ihm aus Berlin erhielt, in dem er die Bitte aussprach, sie wolle gestatten, daß er sich bei uns, den Eltern, um ihre Hand bewerbe. Nach eingezogenen Erkundigungen über unseren zukünftigen Schwiegersohn gaben wir unserer Anna die Erlaubnis, zustimmend zu antworten. Der Brief wurde, wie sich leicht denken läßt, ohne allzu langes Zögern expedirt und wir erwarteten nun mit einer gewissen Spannung weitere Nachricht. Doch diese blieb aus. – Tag um Tag, Woche um Woche verrann. Aber Anna erhielt keine Antwort. Heute ist es schon über einen vollen Monat her, daß ihr Brief abgesandt wurde. Du wirst jetzt,“ so schloß mein Freund seine Mittheilungen, „die Verstimmung in unserm sonst so fröhlichen Familienkreise erklärlich finden.“

Meinen Versuch, das Stillschweigen des jungen Mannes dadurch zu erklären, daß der betreffende Brief vielleicht verloren gegangen sei, beantwortete Freund B. mit der resignirten Bemerkung: „Mir ist bei ziemlich ausgebreiteter Correspondenz noch niemals ein Brief auf der Post verloren gegangen.“ – Ein Vorschlag, den ich unter andern Umständen wohl gemacht haben würde, zur Aufklärung der Sache nämlich dem ersten Briefe einen zweiten folgen zu lassen, erschien bei dem delicaten Charakter der Angelegenheit unangemessen und ich schwieg daher. – –

Mein Aufenthalt in der Familie ging nach wenigen Tagen zu Ende. –

Kurz nach meiner Rückkehr in die Heimath trat der Briefträger bei mir ein und übergab mir, zu meiner Ueberraschung, einen wenige Tage zuvor von mir an einen Freund abgesandten Brief. Derselbe enthielt auf der Rückseite den Vermerk. „Welcher von zweien gleichen Namens?“ Der Vorsteher des Postamtes, einer meiner näheren Bekannten, hatte den Brief nach Handschrift und Siegel als von mir abgesandt erkannt und mir denselben zurückgeschickt.

In Folge natürlicher Ideencombination gedachte ich des Vorfalls in dem erst kürzlich von mir verlassenen befreundeten Kreise, und wieder, wie schon bei der ersten Mittheilung, stieg der Gedanke in mir auf: vielleicht ist Anna's Brief aus irgend einem Grunde unbestellbar gewesen und nach dem Aufgabeorte zurückgeschickt. Dieser Gedanke setzte sich bei mir fest; ich schrieb schon am nächsten Tage in diesem Sinne an Freund B., indem ich ihn bat, desfallsige Erkundigungen bei der Postverwaltung des Ortes einzuziehen. Etwa acht Tage später erhielt ich zu meiner größten Befriedigung eine Antwort, die meine Ansicht bestätigte. Ich entnahm derselben Folgendes. Der Postbeamte des Ortes hatte zwar unmittelbar keine Auskunft zu geben vermocht, da alle unanbringlichen Retourbriefe bestimmungsmäßig der Oberpostdirection eingesandt werden müssen, doch war von letzterer auf eine nunmehr erfolgende bezügliche Anfrage umgehend der vielbesprochene Brief zurückgesandt. Auf der Rückseite desselben befand sich der Vermerk des Berliner Briefträgers: „Adressat existirt in der angegebenen Hausnummer nicht.“

Die Erklärung, weshalb die Absenderin den Brief nicht zurückerhalten hatte, war die einfachste von der Welt. Der Postbeamte des Ortes hatte die Absenderin nach Handschrift und Siegel nicht zu erkennen vermocht und bei der Oberpostdirection hatte die amtliche Eröffnung desselben gleichfalls kein Resultat ergeben, weil Anna den Brief, wie es so häufig geschieht, nur mit ihrem Vornamen unterzeichnet hatte. Bei genauerer Prüfung der Adresse des zurückgekommenen Briefes hatte sich denn auch bald herausgestellt, weshalb der Adressat nicht aufzufinden gewesen war. Der Grund war einfach genug. Der Brief war statt nach …straße Nr. 24 nach Nr. 27 adressirt, und war der Briefträger mit seinem Unbestellbarkeitsvermerke somit völlig im Rechte gewesen.

Soweit die Mittheilungen von Freund B., denen nur noch hinzuzufügen bleibt, daß kurze Zeit, nachdem der Brief, mit berichtigter Adresse versehen und von einigen erklärenden Zeilen begleitet, zum zweiten Male abgesandt worden war, mir Anna selbst ihre Verlobung mit dem Manne ihres Herzens mittheilte.




Kurz nachher und nachdem ich inzwischen erfahren hatte, daß die Rücksendung des vorerwähnten Briefes an meinen Rechtsanwalt durch die mir unbekannt gewesene Niederlassung eines Namensvetters an demselben Orte veranlaßt worden war, kurz nachher also hatte ich Gelegenheit, mit einem Postbeamten eingehend über das Wesen und die Behandlung der unbestellbaren Briefe mich zu unterhalten. Da das, was ich erfuhr, trotz der allgemeinen Wichtigkeit der Sache, wie die gleich anzuführenden Zahlen beweisen werden, keineswegs genügend bekannt sein dürfte, so wird die nachfolgende Mittheilung, wie ich glaube, nicht ohne Interesse und hoffentlich auch nicht ohne Nutzen sein.

Im Jahre 1873 kamen im deutschen Reichspostgebiete – sonach mit Ausschluß von Baiern und Württemberg – rund vierhundertachtzig Millionen Briefe zur Auflieferung. Hiervon konnten über eine Million nicht nur nicht an die Adressaten bestellt werden, sondern es waren die Ausgabepostanstalten, an welche die Briefe zurückgeschickt wurden auch nicht im Stande, die ungenannten Absender an äußeren Merkmalen, Firmastempel, Siegelabdruck, Handschrift etc. zu erkennen und mußte daher jene erhebliche Zahl von Briefen an die den Postanstalten vorgesetzten Oberpostdirectionen behufs Eröffnung und Ermittelung der aus der Unterschrift etwa erkennbaren Absender eingeschickt werden.

Die Einsendungen der Postanstalten haben, insoweit das Bedürfniß keine kürzeren Termine erfordert, in der Regel zwei Mal wöchentlich zu erfolgen. Ebenso oft tritt auch die bei einer jeden der siebenunddreißig Oberpostdirectionen fungirende, zum Zwecke der gegenseitigen Controle aus je zwei besonders auf das Briefgeheimniß verpflichteten Beamten bestehende sogenannte Retourbrieferöffnungscommission zusammen. Diese Commission ist streng an den Wortlaut der ihr erteilten Instruction gebunden, und es ist ihr daher in erster Linie verboten, von dem eigentlichen Inhalte der zu eröffnenden Briefe Kenntniß zu nehmen. Die Commission beschränkt daher ihre Thätigkeit lediglich auf den Versuch, aus Ortsangabe und Unterschrift die Absender der Briefe zu ermitteln. Es bleibt somit das Briefgeheimniß selbst völlig gewahrt.

Unzweifelhaft würde die vorerwähnte Zahl von einer Million Retourbriefen künftig erheblich geringer ausfallen, wenn das correspondirende Publicum mehr als bisher sich dem in andern Ländern namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika längst eingebürgerten Gebrauche zuwenden und die Briefe zugleich mit der Adresse auch, und zwar am besten auf der Rückseite, mit Namen und Wohnung des Absenders versehen wollte.

Werfen wir nunmehr einen Blick auf eine der Commission übersandte größere Anzahl Retourbriefe, so werden wir daraus am besten erkennen, an wie mancher Klippe die Bestellung der Correspondenz scheitern kann.

Gleich der erste Brief eines stattlichen Bundes trägt den Vermerk: Wird unfrankirt nicht angenommen. Absender unbekannt. In weiterer Folge lesen wir, indem wir dabei Wiederholungen vermeiden: Welcher von zweien gleichen Namens? – Adressat ist gestorben – In der angegebenen Wohnung nicht bekannt – Abgereist, wohin unbekannt – Ist senior oder junior gemeint? – Adresse ist unleserlich – Bestimmungsort ist unbekannt; die Angabe der nächsten Postanstalt ist erforderlich – Von Ems abgereist, ohne jetzige Adresse zurückzulassen. – (Während der Badesaison kommt ein nicht unerheblicher Bruchtheil der Retourbriefe auf die Correspondenz nach den Badeorten.) Ein Brief nach Neukirchen ohne weiteren Zusatz, trägt den Postvermerk: Es giebt elf Postanstalten Neukirchen, welche ist gemeint? Es folgt ein Brief an Fräulein Lina M… in Dresden, Wilsdrufer Straße. Postvermerk: Ohne Angabe der Hausnummer nicht aufzufinden. – An den Soldat Dreier, vierte Compagnie, Berlin. Ohne Angabe des Regiments unbestellbar.

Ein unfrankirter Brief nach Valparaiso ist von der Aufgabepostanstalt überhaupt nicht abgeschickt, sondern der Commission zur Eröffnung eingesandt, weil die Correspondenz nach Chile, Peru sowie nach verschiedenen andern transatlantischen besonders südamerikanischen Ländern, allgemein dem Frankirungszwange unterliegt, unfrankirte oder auch nur ungenügend frankirte Briefe daher überhaupt nicht abgesandt werden dürfen. – Ein poste restante Brief trägt den Vermerk: Während der reglementsmäßigen dreimonatlichen Lagerfrist nicht abgefordert, daher retour.

Zum Schlusse folgen noch einige Retourbriefe aus den Vereinigten Staaten, dieselben sind, je nach der Verschiedenheit des Falles, mit den Stempeln versehen: „Removed (verzogen), Not called for (nicht abgefordert). Refused (verweigert), Cannot be found (nicht aufzufinden).“

Prüfen wir nun, welches Resultat die amtliche Eröffnung jener Million Retourbriefe geliefert hat, so ergiebt sich zwar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_050.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)