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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

und Mitglied des deutschen Reichstags. Außerdem fungirt nach Paragraph 56 der Statuten bei dieser Bank auch ein Staatscommissarius, der den Geschäftsbetrieb zu überwachen, aber, wie es scheint, sich auch nicht veranlaßt gesehen hat, den Schöpfungsdrang des Herrn Schweder irgendwie zu zügeln. Erst unter Leitung der gegenwärtigen Direction ist das Institut zu seiner ursprünglichen Bestimmung und zu einer soliden Thätigkeit zurückgekehrt, und seitdem hat sich auch der Cours der Actien wieder um das Doppelte gehoben.

Herr Schweder war groß, aber Herr Quistorp war noch größer. Erinnert jener an einen unverantwortlichen Premierminister, so ist dieser einem absoluten Monarchen zu vergleichen. Wie Napoleon Bonaparte schuf auch Heinrich Quistorp Alles selber und allein, und gewissermaßen Alles aus – Nichts. Nachdem er zunächst in seiner Vaterstadt Stettin und, wenn wir nicht irren, dann in England Schiffbruch gelitten, kam er ohne Mittel, ohne Bekanntschaften nach Berlin. Sein erster „Versuch“ war die Villencolonie „Westend“, belegen an der Chaussee nach Spandau, noch hinter Charlottenburg, auf einer kahlen sterilen allen Winden preisgegebenen Anhöhe. Hier steckte er Straßen ab, denen er die lieblichsten hochpoetischen Namen gab, wie Ahorn-Allee, Akazien-Allee, Platanen-Allee etc., und baute in jeder Allee ein oder gar zwei Häuser, zugleich aber auch ein Restaurant ersten Ranges, ein großartiges Casino und eine Wasserkunst. Trotzdem wollte sich kein Käufer, nicht einmal Miether finden, und die luftigen Villen, bei deren Anblick man einen leichten Rheumatismus verspürte, wurden Jahre lang nur von Quistorp und seinen Freunden bewohnt. Anfangs 1870 gründete die „Westendgesellschaft Quistorp u. Comp.“ die „Vereinsbank Quistorp u. Comp.“ in Charlottenburg. Diese patriarchalische Ackerbürgerstadt, wo der Berliner „Sommer-wohnt“, sah sich plötzlich mit einer Bank beglückt, die hier jedoch schlechterdings nichts zu thun fand und deshalb bald nach Berlin wanderte. Damit beginnt Quistorp’s eigentliche Wirksamkeit. Er hatte es verstanden, für sich zu werben, er hatte bis zu den höchsten Kreisen hinauf Gönner und Freunde gefunden. Die in Charlottenburg wohnende Königin Wittwe, deren Frömmigkeit, Wohltätigkeit und Gutmütigkeit bekannt war, unterstützte ihn reichlich; auch andere Mitglieder der Königlichen Familie sollen ihm ansehnliche Summen vorgestreckt haben. Er wußte sich bei den Behörden, bei hochstehenden und einflußreichen Personen einzuschmeicheln, und namentlich gelang es ihm, auch bei der „Preußischen Bank“ Fuß zu fassen; er warb gewisse „Volkswirthe“ und Literaten zu seinem Privatgebrauch an und bewog etliche Beamte, aus dem Staatsdienst in den seinigen überzutreten.

Hinter der Universität in einem philosophischen Winkel, kurz zuvor „Hegelplatz“ getauft, baute er sich und der Bank ein stolzes Palais und ließ von hier aus in rastloser Aufeinanderfolge an dreißig Gründungen und Emissionen in die Welt gehen: Feilen-, Tabaks-, Papier-, Waggon-, Faß-, Werkzeug-, chemische, optische und andere Fabriken, Bau-, Fuhr-, Pferde-Eisenbahn-, Brauerei-, Dampfschiffs-, Bergbau- und Hüttengesellschaften, die zum Theil in Berlin, zum Theil über ganz Deutschland saßen. Quistorp betonte, daß die „Vereinsbank“ die Gründungen nur „commissionsweise“ betreibe, also selber nicht weiter dabei betheiligt sei und daß die jedesmaligen Verhältnisse von ihr genau geprüft würden, also eine unsolide Gründung gar nicht möglich sei. Von jeder Neu-Gründung bezog die „Vereinsbank“ Agio, so daß sie für 1871 nicht weniger als fünfzehn Procent, 1872 sogar neunzehn Procent Dividende vertheilte. Alle diese Gesellschaften wurden mit der „Vereinsbank“ verknüpft, indem man den Actionären der letzteren immer ein Bezugsrecht auf die neue Emission einräumte und solches von ihnen auch stets benutzt ward, so daß sich zuletzt ein industrieller Rattenkönig gebildet hatte, in dessen Mitte Herr Heinrich Quistorp saß. Aber dieser Mann verstand’s, sich dermaßen als „Biedermeier“ aufzuspielen, daß er nicht nur das Publicum, sondern sogar die Börse berückte. Die Börse, welche sonst Niemandem, nicht einmal sich selber traut, glaubte an – Quistorp. Während sie Herrn Schweder nur eine glückliche Hand nachrühmte, hielt sie Quistorp für den leibhaftigen Bruder Grund-Ehrlich. Die „Quistorp’schen Werthe“ fanden ein ganz besonderes Ansehen, eine außerordentliche Zugkraft; sie wurden von den Banquiers in der besten Absicht ihren solidesten Kunden als „hochfeine“ Capitalanlage empfohlen und mit Vorliebe von dem schlichten Bürgersmanne genommen. Selbst nach dem „Großen Krach“ behaupteten sie noch eine Zeitlang ihren Nimbus, und als endlich auch die „Vereinsbank“ fiel, glaubte man in gewissen Kreisen, das Ende der Welt sei gekommen.

Herr Heinrich Quistorp ist unter den Helden der Gründerperiode einer der merkwürdigsten, und wir werden noch öfter Gelegenheit haben, uns mit ihm zu beschäftigen.





Doctor Eisenbart in Wetzlar.
Aus den Tagen des alten Reichs.
Von Dr. R. Koser.

„Ich bin der Doctor Eisenbart, Valleri juchhe!
Curir’ die Leut’ nach meiner Art, Valleri juchhe!
Kann machen, daß die Lahmen sehn, Valleri juchheirassa!
Und daß die Blinden wieder gehn, Valleri juchhe!“

Wer jemals aus einem deutschen Commersbuche gesungen hat, der kennt den Doctor Eisenbart, diesen Till Eulenspiegel unter den Jüngern Aesculap’s, das unerreichte Vorbild aller Charlatans. Die heutige weniger kühne Generation seiner Zunftgenossen schüttelt freilich den Kopf, wenn sie von Eisenbart’s Parforce- und Radicalcuren hört, wie er in Wien seinen Patienten auf ewig vom Zahnweh heilt, indem er ihm den hohlen Zahn nicht auszieht, sondern ausschießt, oder wie er zu Osnabrück dem podagrischen alten Knaben – Eisenbart bezeichnet selbst diese Operation als sein Meisterstück – um sein Leiden zu heben, beide Beine abnimmt. Aber das Staunen über die großartige Genialität der Eisenbart’schen Heilmethode, es darf nicht übergehen in den Zweifel an die Geschichtlichkeit des Mannes: Eisenbart ist keine mythische Figur; seine Persönlichkeit erscheint durch unanfechtbare Documente in ausreichendster Weise historisch gesichert.

Edle Bescheidenheit des großen Mannes, daß er uns in jenem Liede nur von seinen Leistungen auf wissenschaftlichem Gebiete, seinen Verdiensten um die leidende Menschheit erzählt, kein Wort aber darüber verliert, wie er einst auch in das öffentliche Leben seiner Nation eingegriffen hat, wie der Name Eisenbart einst ob einer politischen That in aller Deutschen Munde war, wie Kaiser und Reich sich mit seiner Person beschäftigten!

Wir haben über die äußeren Lebensumstände Doctor Eisenbart’s von ihm selbst jene Angabe, daß er „den siebenjährigen Krieg hindurch zehn Jahre lang Feldchirurg gewesen sei“. Man hüte sich indeß, dieser Versicherung, wie sie ja an sich schon die innere Unwahrscheinlichkeit gegen sich hat, irgend welchen Glauben beizumessen: der Name Eisenbart gehört einer früheren Periode unserer Geschichte an.

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts waren die Bürger der freien Reichsstadt Wetzlar, waren mit ihnen alle deutschen Patrioten in großer Aufregung und Kümmerniß. Erst kurze Zeit barg Wetzlar in seinen Mauern das hochlöbliche Reichskammergericht, nachdem dasselbe aus Furcht vor den Franzosen Speyer, seinen früheren Sitz, geräumt hatte, und nun mußte die gute Stadt durch die Aufführung ihrer neuen Gäste, der Herren Präsidenten und Assessoren des höchsten Gerichts, der Schauplatz der ärgerlichsten Auftritte werden. Zwischen den beiden Präsidenten war die bitterste Feindschaft ausgebrochen. Der ältere, seit 1697 fungirende Franz Adolf Dietrich Freiherr von Ingelheim, Herr zu Schönberg, Holzhausen und Schweppenhausen, und der jüngere, ein Jahr später in Eid genommene Friedrich Ernst, Graf zu Solms-Laubach und Tecklenburg, Herr zu Münzenberg, Wildenfels und Sonnenwalde, sie chicanirten sich gegenseitig auf jede erdenkliche Weise. Die Herren Assessoren nahmen eifrig Partei. Da stand zu dem Herrn ersten Präsidenten mit der Mehrheit des Assessorencollegiums, mit den Herren von Friesenhausen, von Bernstorff, Schrag, von Ritter, von Wigand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_065.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)