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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


in die Höhe. Da fiel es wie ein unendliches, namenloses Sehnen über mich; ich wußte nicht, was es war, aber ich weinte und weinte, bis ich den Acker erreichte, auf dem die Knechte und Mägde rüstig schafften, und bei den kräftigen Bauernpferden meinen Weltschmerz vergaß.

Eine besonders ergiebige Quelle für solche Naturstimmungen war das Flüßchen, das an der südöstlichen Seite des Dorfes, oft unter Weidenbüschen versteckt, so sanft dahin murmelte. Da saßen wir stundenlang und angelten. Oder am Sonntag Nachmittag zog die Bubenschaar, größere und kleinere, hinaus an eine besonders geeignete und tiefere Badestelle. Da führten wir unsere ersten Religionskriege. Oft war der Platz bereits von den Knaben des katholischen Nachbarortes besetzt; er wurde, nachdem wir unterwegs unseren Muth auf alle Weise entflammt hatten, mit Sturm genommen. Am glänzendsten war der Feldzug, wenn der ältere Bruder Theodor, groß und muthig, wie er war, in den Ferien bei uns war und mit unserem „Mohr“, einem kühnen Stauferhunde, der ganzen Schaar voranging. Ich sehe noch den geschlagenen Feind in ungeordnetem Rückzug den Hügel entlang ziehen.

Wenn dann die Nebel des Herbstes in’s Land fielen, dann ging’s hinaus auf den Kartoffelacker draußen am Saume des Waldes; da machten wir das Feuer an und unterhielten es mit den Stauden der Frucht und brieten die mehligen Dinger. Und der Winter erst, wenn in dem etwas rauhen Klima Eis und Schnee das Land fast die Hälfte des Jahres bedeckte! Der erste Schnee im Jahre – welch ein Fest der Jugend! Man steht am Fenster in der traulichen Stube und schaut unverwandt nach den ersehnten Flöckchen, die erst so schüchtern und spärlich und zögernd kommen, als wollten sie den unsicheren Grund erst einmal untersuchen. Es wird Nichts werden, o! man möchte den Wolkenflor bespötteln. Aber schon kommen sie dichter und dichter – schon neigen sich die Aeste der Bäume. Du freust Dich umsonst; der Schnee ist zu saftig – er wird nicht halten. Doch schon ist der Boden bedeckt, wohin das Auge sieht. Schon sind die Steine unter der weißen Decke verschwunden. Jetzt den Schlitten aus der dunklen Kammer geholt und hinaus auf alle Hügel und Halden! Ja, kaum waren wir dem Mutterarme entwachsen, so regierten wir den Schlitten, wie der Reiter sein Pferd. Wenn dann der Thauwind wieder kam und die Eisdecke löste, dann ging es mit kühnem Wagniß auf die abgesprengten Eistafeln hinaus; von der einen Tafel, die unter dem Fuße sank, setzte man auf die andere und so fort über das ganze Eisfeld hin auf und ab. Eines Tages hatte mir die älteste Schwester, welche in Abwesenheit der Eltern das häusliche Scepter führte, dieses Vergnügen untersagt, als nur für ältere Knaben ungefährlich. Aber ich widerstand dem Reize nicht, und richtig, ich gleite aus und falle in das tiefe Wasser; es gelingt mir, mich so lange an einer Eistafel zu halten, bis einige Knaben sie mit einer Stange an’s Ufer getrieben haben. Pudelnaß renne ich heim, und die strenge Schwester, weit entfernt, über die Rettung des Bruders Thränen der Rührung zu vergießen, statuirt vor ihren auf Besuch anwesenden Freundinnen aus dem Dorfe ein empfindliches Strafexempel an dem verwegenen Jungen.

Hatten wir uns dann den Tag über müde gerannt, dann ruhte sich’s so süß am langen Abende auf dem großen, strapazenreichen Familiensopha. Unter beständigem Kampfe der gegen einander gekehrten Füße, den nur hier und da ein kräftiges Scheltwort der Mutter unterbrach, lagen wir Knaben da und lauschten dem Familiengespräche. Mutter und Schwestern spannen, und das Rädchen surrte unter dem Fuße der ältesten Schwester, und die Spindeln der Anderen, die vor ihrer Kunkel saßen, tanzten so melodisch auf dem Boden.

Neben den Freuden auf Eis und Schnee bestand mein Hauptwintervergnügen im Vogelfange. Henricus auceps (Heinrich den Finkler, dem großen Kaiser aus dem sächsischen Hause nach) nannte mich darum später mein Praeceptor (Lehrer an der Lateinschule). Da war das Haus des guten Provisors, in welchem ich wie daheim war, der Liebling der alten zahnlosen Provisorin, die immer ein Zückerlein oder ein Brätlein[1] für mich parat hielt, und der ständige Gesellschafter des lahmen Sohnes, dem ich seine Pfeife stopfte und anzündete und die traurigen Stunden seines freudlosen Lebens erheiterte. Der Wand entlang in der Wohnstube war ein großer Vogelkäfig mit vielen Abtheilungen. Sobald der erste Schnee fiel, ging es da an ein Hämmern und Zimmern und die Meisenschläge wanderten auf die Bäume im Garten neben dem Hause. Täglich, stündlich wurde nachgeschaut. War einmal der Deckel gefallen, dann ging’s mit pochendem Herzen den Baum hinauf. Man sieht durch die Spalten des Schlages: es regt sich Etwas; es ist etwas Schwarzes darin. Ist’s eine Blaumeise? eine Spiegel- oder Kohlmeise? Schnell den Schlag losgelöst, am Taschentuche hinuntergelassen und in’s Zimmer getragen. Wie seltsam that der Vogel, wenn er sich aus dem finsteren Behälter in den hellen geräumigen Käfig versetzt sah! Aber es war ein Käfig; er hatte seine Freiheit verloren. Wild und ruhelos rannte er, wie ein Verzweifelnder, im Kerker auf und ab und pickte nur mit Verdruß und unter stummen Vorwürfen den Samen, der ihn verleitet hatte, bis das stürmische Freiheitsfeuer sich allmählich dämpfte und der Flug in’s Freie, wenn der Frühling wieder kam, fast zögernd und zaghaft unternommen wurde.

Einmal ist mir etwas Schreckliches passirt: gegen das Ende des Winters hatte ich auch auf einem hohen Birnbaume im Pfarrgarten noch einen Schlag gerichtet, wohin ich sonst nie einen gestellt hatte. Der Schnee schmolz, und die Erde grünte; es fiel mir nicht ein, daß in solcher Zeit noch ein Vögelein sich würde fangen lassen. Wie zufällig komme ich einmal hin. Der Schlag ist gefallen – ein Vögelein ist darin, aber wehe! todt und ausgestreckt. Es war mir wie ein Stich in’s Herz, daß ich das arme Thier so traurigem Tode preisgegeben.

Daß ich doch unter den Winterfreuden den Samiklaus (Sanctus Nicolaus) und den Weihnachtsbaum nicht vergesse! Wie bebte dem Kinde das Herz, wie angstvoll schlugen die Pulse, wenn um die ahnungsvolle Weihnachts- und Neujahrszeit nach all’ den abergläubigen, furchterregenden Erzählungen, welche ihm in’s Herz geträufelt worden waren (zwar nicht im Elternhause), der Klaus nächtlicher Weile die Treppe heraufpolterte, im Gange einen wüsten Lärm machte, hereintrat, das Kind, das sich verkrochen hatte, aufsuchte, um dann beim Weggehen das geängstete durch eine Hand voll Nüsse, die er in die Stube warf, zu trösten! Neben diesen aufregenden Erinnerungen an das alte alemannische Heidenthum wirkte der Christabend so wohlthuend und freundlich. Das war wohl einer der glücklichsten Griffe, welchen die christliche Kirche that, als sie das Heidenthum aus unseren Ländern verdrängt hatte, daß sie in die Zeit der römischen Saturnalien und der germanischen Weihenächte, in welchen die Göttin der Huld mit ihren Gespielinnen über die Fluren ging, um die Samenkörner des Frühlings auszustreuen, ihr Christfest verlegte mit der Losung: „Die Nacht ist vergangen; der Tag ist gekommen; wandelt ehrbar als am Tage!“ Selbst wenn der christliche Festkalender einmal gänzlich sollte vergessen sein, würde doch der Weihnachtsbaum nicht untergehen mit dem hoffnungsreichen Grün in kalter Winterzeit, mit seinen schimmernden Lichtern in dunkler Nacht. Nichts bildet die jugendliche Phantasie und Nichts nährt das Gemüth an seinen verborgenen Wurzeln, wie diese Feier. Nachdem wir wochenlang theils die offenen Vorbereitungen vor uns gesehen, theils an manchen seltsamen Zeichen Geheimnisse geahnt hatten, schickte man uns am Tage des heiligen Abends gleich nach Tische in’s Nachbarhaus, wo wir ungeduldig harrten, bis die Magd mit der Laterne kam und uns holte. Noch ein Viertelstündchen Geduld im Vorzimmer, und auf ging die Thür, und alle die Herrlichkeit stand vor uns, bescheiden zwar, aber dem durch künstliche Genüsse nicht verwöhnten Gemüthe wie ein Königreich. Wer dieses Glück einmal getroffen hat, der mag es nicht mehr missen, so alt er wird.

Das sind einige Erinnerungen aus der Jugendzeit. War das nicht ein herrlicher Tag voll Sonnenschein? Aber, so fragt vielleicht ein Neidischer, habt Ihr denn Nichts lernen müssen, Ihr Glücklichen? Wohl, wir hatten auch Schule, aber es war – soll ich sagen ein Spaß oder eine schnell vergessene Pein? Die circa zweihundert Kinder des Dorfes waren in zwei großen Zimmern zusammengepfercht, die Jüngeren unter dem alten gutmüthigen Provisor, der zugleich des Vaters Küster war, die älteren unter dem strengeren Schulmeister. Das waren zwei Bürger der Gemeinde, die in ihrer Jugend lesen, schreiben und

  1. Brätlein nennt man im Schwabenlande Sauerkraut mit Spätzlein („Knöpfle“), vom Mittagstische übrig geblieben und im Ofenrohre bis gegen Abend zugebrätelt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_121.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)