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verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


rechnen gelernt hatten; von einer besonderen Ausbildung für den Lehrerberuf war keine Rede. Da wurde Alles rein mechanisch angelernt; warum man ein Wort so schreibe, ein anderes so, warum man z. B. beim Addiren eine Zahl unter den Strich setze und die andere zur folgenden Reihe hinübernehme, das erfuhr man nie.

Im achten Jahre nahm mich der Vater zu sich auf die Studirstube mit dem Bruder, der schon ein Jahr vorher aus der Schule genommen war, um mit uns Latein zu treiben; auch ein Kaufmannssohn aus dem Dorfe nahm Theil. Wir lernten brav, aber es gab doch zu viele Abhaltungen und Störungen. Am Montag Morgen kam die Dorfpolizei mit der stehenden Redensart: „Guten Morgen, Herr Pfarrer. Ich habe Ihnen zu vermelden, daß ich Nichts zu vermelden habe,“ der Mann meinte besonders Uebertretungen des Sonntagsgebots, „haben Sie sonst Nichts zu vermelden?“ Da kam wieder ein Bäuerlein, das marktete um den Zehenten, aus welchem zum Theil die Pfarrerbesoldung bestand, und erklärte, daß die Ernte weit unter der amtlichen Abschätzung ausgefallen sei.

Ein anderes Mal war eine Beerdigung oder eine Hochzeit, und der Vater mußte zur Kirche. Kaum war er zur Thür hinaus, so ging es an einen Hosenlupf, und gewöhnlich unterlag der geistig und körperlich etwas langsamere ältere Bruder der Schnelligkeit und List des Jüngeren. In anderer Weise standen sich Esau und Jacob gegenüber. Auch war der Vater viel zu gut für solche Wildfänge. Man sagt, daß die Väter gewöhnlich schlechte Lehrer seien. Wenn die brüderlichen Füße unter dem Tische hinter einander geriethen, oder wenn ich das Tintenfaß des Bruders, während er emsig schrieb, auf den Kopf stellte, daß er sich die Feder beim nächsten Versuch des Eintunkens zerstieß, dann erhob der Vater den Kopf einen Augenblick von seiner Lectüre und sprach mit wehmüthigem Ton: „Buben, Buben!“ anstatt den stets keinnützigen Jüngeren, wie er’s verdiente, einmal kräftig durchzuwichsen.

Als ich meinen neunten Geburtstag feierte, erschrak der Vater; er hatte gemeint, ich zähle erst acht Jahre. Wie hätte er Zeit gehabt, das Alter seiner Kinder auszurechnen? Jetzt hieß es aber: schnell mit ihm fort in die lateinische Schule! Denn das Landexamen, das schon die dreizehnjährigen Bürschchen in die Residenzstadt rief, war eine Macht, mit der sich nicht spaßen ließ. Daß ich nämlich Theologie studiren müsse, das verstand sich aus mehr als einem Grunde von selbst. Denn erstens waren der Vater, der Großvater, der, damals nahe den Achtzigen, eine Stadtpfarrei verwaltete, der Urgroßvater und so weiter rückwärts, Pfarrer gewesen, und Alle hatten diesem Berufe bei wenig äußerlichem Glanze mit innerer Befriedigung gelebt. Für’s andere erwuchsen auf diesem Studienwege Vortheile, deren kein anderer Berufszweig sich zu rühmen hatte; das ganze Studium ging vom vierzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahre auf Kosten des Staates, Dank dem frommen Herzog Christoph, der zur Reformationszeit einen Theil des eingezogenen Klostervermögens auf diese Weise für das Reich Gottes wieder fruchtbar gemacht hatte. Aber außerdem – hatte ich denn nicht schon von Kindheit auf gepredigt? Als kleiner Knabe hatte ich den nächsten besten Fußschemel oder Stuhl zur Kanzel gemacht und über meinen Lieblingstext gesprochen: „schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern!“ Hatte denn nicht meine liebste Freundin, die alte Provisorin, hundert Mal gesagt: „Heinrich, ich will’s noch erleben, daß er Pfarrer in Sch. wird“? Und hatte nicht die Frau Decanin von F., als ich einmal vor einer großen Tischgesellschaft so unerschrocken mein Thema abgehandelt hatte, mir als Zeichen ihrer Anerkennung ein kostbares Kinderspiel verehrt?

Bei allem Drang in die Fremde und allem Frohmuth meiner Natur fiel mir doch der Abschied schwer. Als ich am letzten Sonntag, den ich im Dorfe zubrachte, noch einmal im Hause des Provisors war und die Nachbarn, die in behaglicher Sonntagsruhe dort zusammen saßen, über die alltäglichsten Dinge sprachen, wie sonst, konnte ich das nicht begreifen und wurde ihnen recht böse. Sollte es denn nicht Allen zu Herzen gehen, daß ich morgen fort müsse? Am Montag Morgen, noch bei Licht, rief mich der Vater in sein Studirzimmer, sprach ernste und liebevolle Abschiedsworte, drückte mir dann zwei Gebete in die Hand, eines für den Morgen und eines für den Abend, die er ausdrücklich für mich niedergeschrieben hatte, und sagte: „Bet’ und arbeit’ fleißig!“

Auf den Marktkisten eines befreundeten Kaufmanns, der nach der Stadt zur Messe fuhr, legten wir, mein Bruder und ich, die erste Strecke unseres Weges zurück und waren nach sechs oder sieben Stunden am Orte unserer Bestimmung.




Blätter und Blüthen.


General Sheridan in New-Orleans. Der am 4. Januar dieses Jahres begangene Gewaltact im Hause der Repräsentanten des Staates Louisiana hat in den Vereinigten Staaten einen Sturm erregt, dessen hochgehende Wogen noch heute gegen das stolze Piedestal branden, auf welches die Bürger der Union den Präsidenten Grant stellten.

An diesem Tage hat ein Soldat, der General de Tobriand, es gewagt, an der Spitze von zwanzig Untergebenen in die Legislatur des Staates einzubrechen und fünf conservative Mitglieder derselben aus dem Sitzungssaale werfen zu lassen. Ein solcher Act ist unerhört in der Geschichte der Union und mit Recht rief Louis Wilts, der Sprecher des Hauses: „Louisiana hat aufgehört, ein souveräner Staat zu sein.“ Die Folgen der That sind bekannt. In New Orleans constituirten sich zwei Legislaturen. General Sheridan übernahm persönlich das Militärcommando und telegraphirte an den Präsidenten Grant, daß die Civilregierung des Staates Louisiana außer Stande sei, die Ordnung aufrecht zu erhalten; darum müsse über denselben der Belagerungszustand verhängt werden.

Grant billigte alle militärischen Maßregeln und zeigte sich nicht abgeneigt, auf Sheridan’s Verlangen einzugehen. Dies wird, soweit ich die Amerikaner kenne, dem Präsidenten den besseren Theil seiner republikanischen Freunde für immer entfremden.

Was den kleinen Phil. Henry Sheridan angeht, so dürfte ein Erinnerungsblatt aus vergangenen Tagen zur Genüge darthun, daß der Generallieutenant für keine Zustände so sehr schwärmt, als für Belagerungszustände. In dem Manne steckt ein Dictator. Wir wollen herzlich wünschen, daß die transatlantische Republik niemals in die Lage komme, von diesen hervorragenden Anlagen Sheridan’s Gebrauch machen zu müssen.

Sheridan erhielt bereits im Winter des Jahres 1865 im Staate Louisiana das Militärcommando und verlegte sein Hauptquartier nach New-Orleans, wo er kräftiglich bemüht war, die Wiederherstellungsacte durchzuführen. Als der Präsident Johnson diesen gewaltsamen Bemühungen durch die Abberufung des Generals ein Ziel setzte, gab sich im Norden eine große Entrüstung kund. Es ist wahrscheinlich, daß Johnson sich bei diesem Schritte von unlauteren Motiven leiten ließ, allein gewiß ist, daß Sheridan durch sein barsches Auftreten viel an der Verschärfung des genugsam ausgebildeten Racenhasses in Louisiana verschuldete und daß er sich bei der Anwendung seiner fast unumschränkten Macht Vollkommenheit nicht immer von der Rücksicht für Recht und Billigkeit leiten ließ.

Im französischen Opernhause zu New-Orleans spielte zu jener Zeit eine deutsche Schauspielertruppe, welche bei der geringen Anzahl der in der Stadt wohnenden Deutschen und der durch den Krieg herbeigeführten Geldcalamität Mühe hatte, die weiten Räume des prächtigen Theaters zu füllen. Zum Heile der Gesellschaft meldete sich Ende December eine italienische Operntruppe zum Gastspiele, welche – das ließ sich voraussehen – brillante Einnahmen erzielen mußte. Die Oper sollte viermal in der Woche Vorstellungen geben und dreimal die deutsche Gesellschaft. Als der Impressario eintraf, ließ dieser durch den deutschen Director ein Logenabonnement eröffnen. Schon waren die Logen alle vergriffen, da sandte General Sheridan einen Adjutanten auf’s Bureau und ließ für sich die große Prosceniumsloge rechts vom Parterre in Beschlag legen.

Diese Maßregel rief bei dem deutschen Director wie dessen Gesellschaft eine nicht geringe Bestürzung hervor, denn gerade diese Loge war von einer Familie bereits gemiethet, welche ein Anrecht darauf besaß.

Der Lohgerber N., ein biederer Schwabe, hatte das deutsche Schauspielunternehmen so zu sagen in's Leben gerufen. Er unterstützte die Direction mit reichen Geldmitteln und war seit Eröffnung des Theaters stetiger Abonnent dieser Loge gewesen. Abend für Abend war dieser treue Kunstmäcen in jener Loge erschienen, hatte sich in den weichen Sammetfauteuil gestreckt und war bei den Klängen der Ouverture fest eingeschlafen, um nicht eher wieder zu erwachen, als bis der Vorhang fiel. Welch’ einen beruhigenden Einfluß der Anblick dieses wackeren Schläfers auf die vom Coulissenfieber befallenen Darsteller ausübte, möge der unparteiische Leser selber beurtheilen. Andererseits aber floß aus dieser Loge den Schauspielern, welche sich in animirter Stimmung befanden, auch wieder ein reicher Strom der Ermunterung zu. Dem braven Schläfer gegenüber hatte nämlich dessen Gattin, eine höchst würdige Matrone, Platz genommen, welche nicht schlief, sondern mit gespannter Aufmerksamkeit den Gang des Spiels verfolgte. Bei alledem war es nicht der sittliche Ernst dieser Dame, welcher einen belebenden Einfluß ausübte, so hoch ich denselben auch sonst immer anschlage. Die Person, welche eine nie versiechende Quelle der Anregung und stummen Heiterkeit ausströmte, saß im Schooße der Dame und war keine andere als Chrischtöffle, das schwarze Adoptivkind der Familie.

Chrischtöffle war ein Vollblutneger im Alter von sieben Jahren, den die Lohgerberfamilie adoptirt hatte, als dessen Mutter, eine treue Person, dem gelben Fieber zum Opfer fiel. Der lebhafte Knabe hatte eine ebenholzschwarze Hautfarbe, blendend weiße Zähne, aber die edlere Gesichtsbildung der Negerstämme im Hochlande Centralafrikas. Was nun den pikanten Zug im Wesen dieses schwarzen Knaben ausmachte, war der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_122.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)