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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


No. 10.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Das Kind.

Ich kann den Blick nicht von Dir wenden,
Du, mein geliebtes, süßes Kind,
Wie Du, mit still gefalt’nen Händen,
Im Bettchen schlummerst leis und lind.
Der heil’ge Zauber Deiner Züge
Hat mich in seinen Bann gethan;
Aus jedem Deiner Athemzüge
Weht es wie Gottes Hauch mich an.

Die ew’ge Seele, deren Weben
Den Stoff belebt, den Geist beschwingt,
Die mit allgegenwärt’gem Leben
Staubkorn wie Sonnenball durchdringt,
Die sich verhaucht in Blumendüfte,
Und die den Aar in stolzem Flug
Im Sturme trägt durch alle Lüfte,
Lebt auch in Deinem Athemzug.

Ein Ich, ein Glied im Ring der Wesen,
Deß End’ und Anfang Niemand mißt,
Bist Du und bist doch nicht gewesen,
Du warst noch eben nicht und bist.
Ich stand vereinsamt und verlassen,
Und plötzlich lacht mich hold und mild
– Wer kann das süße Räthsel fassen? –
In Dir mich an mein eigen Bild.

Geheimnißvolles Geistertauschen!
Nun bist Du ich und ich bin Du;
Dem eignen Laut glaub’ ich zu lauschen,
Hör’ Deiner Stimme Klang ich zu.
O Glück, drum mich die Engel neiden!
Was frag’ ich länger, wie’s geschah?
Ich will mich fromm und still bescheiden,
Dein Lächeln sagt ja: „ich bin da!“

Ja, wie die Rose sich erschlossen
Nach träum’risch sel’ger Frühlingsnacht,
So bist auch Du zum Licht ersprossen,
Bei’m Kuß der Liebe Du erwacht.
Gleichwie aus stillem Heiligthume,
Aus Deiner Mutter keuschem Schooß,
Rangst Du, o schöne Menschenblume,
Zum holden Sonnenlicht Dich los.

O, zaub’risch wundervolle Spende,
Die Gott in Dir mir hat gethan!
Ich falte dankend meine Hände
Und forsche nicht und schau’ Dich an.
Denn ob ich jedes Räthsel löste,
Hier steh’ ich offnen Auges blind;
Von allen Wundern bleibt das größte,
Das schönste, heiligste das Kind.

Herman Semmig.




Die Kaiserin von Spinetta.
Eine italienische Dorfgeschichte. Von Paul Heyse.

In der Ebene von Alessandria, eine Stunde von dem Dorf Marengo entfernt, liegt ein anderes Dorf, Spinetta genannt, das der Glanz seines weltberühmten Nachbarn vollständig verdunkelt hat. Kaum einmal in genaueren Kriegsgeschichten wird sein Name erwähnt, und die Fremden, die auf dem Schlachtfelde Marengo’s jeden Steinhaufen mustern, würdigen im Vorbeifahren das bescheidene Spinetta keines Blickes. So ist es auch nur den Wenigsten bekannt, daß dieser unscheinbare Ort einmal einen Tag erlebt hat, wo ein Kaiser und eine Kaiserin mit feierlichem Pomp hier gekrönt wurden, und wie es hernach mit der Herrlichkeit dieser Majestäten ein seltsames Ende nahm. Nur ein fliegendes Blatt, dergleichen auf ländlichen Messen und Jahrmärkten für eine kleine Kupfermünze zu Tausenden verkauft werden, hat die nachdenkliche Geschichte dieser Kaiserkrönung aufbewahrt, und die dichtende Phantasie der piemontesischen und lombardischen Landleute umrankt den historischen Kern mit allerlei wunderlicher Zuthat, so daß es heutzutage schwer ist, Geschehenes und Gedichtetes vollkommen zweifellos zu scheiden. Im Wesentlichen aber hat das Ereigniß sich so zugetragen, wie es in den folgenden Blättern berichtet werden soll.

Zu Anfang der zwanziger Jahre, als Karl Felix, nach der Niederschlagung aller Umsturzversuche der Carbonari, unangefochten auf dem Throne von Piemont sich behauptete, lebte in einer der ärmsten Hütten am Rande des Dorfes Spinetta ein schönes Schwesternpaar, das wegen seiner Bravheit und Frömmigkeit allgemein geachtet wurde. Sie hatten beide Eltern schon früh verloren, als die Jüngere, Margheritina, kaum drei Jahre alt war. Damals starb die Mutter aus Kummer über das traurige Ende ihres Mannes, der Napoleon’s Zug nach Moskau als Sergeant mitgemacht und im Eise der Beresina den Heimweg verloren hatte. Die genaue Bestätigung, daß er wirklich todt und nicht etwa gefangen oder irgend wohin verschlagen sei, kam erst einige Jahre nach jenem furchtbaren Völkertrauerspiel, und mit dem Fünkchen Hoffnung, das die gute Frau immer noch genährt hatte, erlosch auch ihre schwache Lebensflamme. Das ältere Mädchen, Pia genannt, war erst fünfzehn Jahre, als sie mit ihrem Schwesterchen zur Waise wurde. Sie wollte aber nichts davon wissen, das Kind fremden Leuten zu übergeben, um selbst in einem ländlichen Dienst sich ihren Unterhalt zu erwerben; sondern sie blieb in dem Häuschen, das noch ihr Vater gebaut hatte, ernährte sich und das Kind mit dem Ertrage ihrer Spindel und der Ernte eines kleinen Maisfeldes, das sie selbst bestellte, und hielt dabei sich und die Kleine so anständig in Kleidern und in so tadelloser Zucht und Ehrbarkeit, daß man ihr großes Lob zollte und die Mütter ihren Töchtern diese beiden Waisenkinder als Muster guter Aufführung hinzustellen pflegten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_157.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)