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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


No. 12.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Ein kleines Bild.
Von Ernst Wichert.[1]


An einem jener unvergeßlichen Herbsttage des Jahres 1870, in welchen das bei Sedan siegreich gewesene deutsche Heer vor Paris Stellung nahm, um die Belagerung der Kaiserstadt zu beginnen, suchte auch eine kleine Sanitätscolonne die ihr angewiesenen Quartiere. Sie bestand aus einigen mit dem bekannten rothen Kreuze bezeichneten Fahrzeugen, deren Radspeichen theilweise schon mit Stricken und Pflöcken zusammengehalten werden mußten, einem Chirurgen, mehreren Trainsoldaten und einer kleinen Schaar von freiwilligen Krankenpflegern unter Anführung eines jungen Mannes mit blondem Vollbarte, der den linken Arm in einer Binde, oder vielmehr in einem schwarzseidenen Halstuche trug, das seinem eigentlichen Zwecke ohne andern Ersatz entzogen war.

Der Ort, in welchen die Colonne einmarschirte, gehörte zu dem Kranz halb städtischer, halb ländlicher Ausbauten, die sich in fast ununterbrochener Reihe um Paris ziehen, nicht mehr zur Stadt gehören, aber doch ihren ursprünglich dörflichen Charakter verloren haben, nachdem wohlhabende Pariser sie mit ihren Villen besetzten, oder Fabrikanten aller Art sie ihren industriellen Zwecken dienstbar machten. Er lag bereits jenseits der Vertheidigungs- und vielleicht auch noch hinter der Angriffslinie zurück, aber darüber ließ sich jetzt noch keine bestimmte Auskunft geben, da der Schanzenring der Belagerer sich noch nicht geschlossen hatte und in jeder Stunde andere Dispositionen nöthig werden konnten.

Jedenfalls waren die Bewohner bei Annäherung der feindlichen Heersäulen der Meinung gewesen, daß man hier nicht so „weit vom Schusse“ sei, als Unbetheiligten wünschenswerth. Sie hatten entweder hinter den starken Forts und den Mauern von Paris Schutz gesucht, oder waren weiter in’s Land hinein geflüchtet. Der Ort schien wie ausgestorben: kein Mensch ließ sich auf der Chaussee erblicken, so weit das Auge reichte; die Thüren und Fensterläden waren geschlossen; kein Schornstein rauchte; hier und dort lagen unter den Bäumen am Wege unordentlich Möbel und Wirthschaftssachen, Kisten und Kästen zusammengeworfen, zu deren Fortschaffung sich wahrscheinlich bei der Eile der Flucht nicht mehr Fuhrwerke hatten auftreiben lassen. Tiefste Stille herrschte rundum, und deutlich war jeder Hufschlag der müden Pferde zu vernehmen, die im Schritte vor den nicht gerade schwerbeladenen Karren hergingen. Einer der Trainsoldaten, die als Kutscher fungirten, pfiff einen lustigen Tanz, aber es schien Niemand danach tanzen zu wollen. Mit gesenkten Köpfen folgten wie einem Leichenwagen in gelösten Reihen die jungen Leute, ermüdet von einem weiten Marsche und um die Hoffnung betrogen, in guten Quartieren für ihre Anstrengungen belohnt zu werden.

Die Colonne hatte die Aufgabe, ein Lazareth einzurichten, in dem Verwundete die erste Pflege erhalten könnten. Ein Gebäude mit möglichst hohen und weiten Räumen sollte dazu ausgesucht werden. Rechts von der Straße, ein wenig zurückgebaut, ragte nun ein Haus über die anderen hervor; ein hoher Schornstein dahinter bewies, daß es zu einer Fabrik gehörte. Der Mann mit dem blonden Barte trat an den Chirurgen heran und machte ihn darauf aufmerksam. „Man kann ja sehen,“ sagte derselbe, und gab dem Führer einen Wink zu halten. Beide bogen dann in den Seitenweg ein und kamen schon nach wenigen Minuten mit der Meldung zurück, daß Alles sicher sei. Das Haus stand ganz leer und bot mehr als hinreichende Räumlichkeit für den beabsichtigten Zweck.

Man richtete sich in einigen Zimmern so wohnlich ein, wie es in der Eile gelingen wollte, schaffte die mitgebrachten Lebensmittel herbei, da sich in der Speisekammer des Fabrikherrn nichts Eßbares vorfand, zündete in den Kaminen Feuer an und machte sich’s bequem auf Sophas und Polsterstühlen, die aus dem ganzen Hause zusammengeschleppt wurden. Der Chirurg brachte eine Flasche Cognac zum Vorschein, die er sorglich im Medicinkasten verwahrt gehalten hatte; in den Blechgeschirren brodelte schnell heißes Wasser; ein kleiner Vorrath von Zucker war auch vorhanden, und so wurde bald allen Müden ihr erwärmender Schlaftrunk, der trefflich mundete.

Man kam überein, durch das Loos entscheiden zu lassen, wer die Nachtwache haben solle. Unter den Dreien, die der Zufall hierzu bestimmte, war ein junger schwächlicher Mensch, der sich kaum noch auf den Füßen erhalten konnte und am dringendsten der Ruhe bedürftig schien. Unaufgefordert erbot sich der Mann mit dem blonden Vollbarte sogleich an seine Stelle zu treten. Er könne doch in einigen Stunden noch nicht schlafen, sagte er, und es sei also Sünde, andere Kräfte zu vergeuden. Er grüßte militärisch den sich in die wollene Decke wickelnden Cameraden, der ihm für die Stellvertretung durch ein freundliches Nicken dankte, und trat in den Flur hinaus, von dem eine breite Thür in’s Freie führte.

Es war inzwischen Nacht geworden, aber der Mond, der über den Häusern und Bäumen aufstieg, verbreitete so viel Helligkeit, daß das Auge nach kurzer Zeit jeden Gegenstand in der Nähe deutlich und auch die entfernteren in ihren Hauptmassen unterscheiden

  1. Verfasser des „Schuster Lange“, Jahrgang 1873.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_189.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)