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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


suchte sie ihn zu hindern sich einer Gefahr auszusetzen? Diese Thatsachen erschienen ihm immer wichtiger, je öfter er sie sich wiederholte, und die Auslegung, die er ihnen gab, schmeichelte doch ein wenig seiner Eitelkeit.

Erst nach Stunden schlief er ein, aber beunruhigende Träume verfolgten ihn. Er träumte, daß er erschossen werden solle, und bereitete sich zum Tode vor. Wie seine Mutter sich über den Verlust ihres einzigen Sohnes grämen würde, trat ihm recht nahe vor die Seele, und er meinte, ihr gar nichts von dem kleinen Bilde schreiben zu dürfen, da sie’s ihm nimmer werde verzeihen können, einem solchen Phantom nachgegangen zu sein, Onkel Helmbach entlud eine Zahl Papierhüllen, die voll Cigarren steckten, in eine große Kiste und nickte jeder traurig nach. Dann war’s ihm, als ob er die Kugel an sein Herz schlagen fühlte – sie war mitten durch das kleine Bild in seiner Brusttasche gegangen. Er lag auf der Erde. Man öffnete seinen Rock über der Brust und fand das Bild. Juliette stand neben ihm und nahm es überrascht dem Manne in der blauen Blouse aus der Hand, dessen Gewehr noch rauchte. Ihre Augen standen plötzlich in Wasser, und sie bückte sich zu ihm herab und küßte ihn auf die Stirn. Er war aber gar nicht todt, wie er geglaubt hatte, sondern hob die Arme auf und umfaßte die holde Gestalt und …

Und da rasselte der Schlüssel im Schloß, und er erwachte. Die Wirthin stand vor ihm und sagte:

„Kommen Sie nur in die Wirthsstube! Die Herrschaften warten schon auf Sie beim Kaffee. Unsere braven Jungen sind vor einer Stunde abgezogen und haben Sie zurückgelassen. Ich durfte aber nicht sogleich öffnen, damit Sie nicht merkten, wohin sie sich gewendet hätten.“

„Und ich bin also frei?“ rief Rose überrascht, indem er sich die Augen rieb.

„Frei!“ bestätigte die Frau. „Danken Sie’s dem jungen Fräulein, das sehr eifrig für Sie gesprochen hat.“

„Juliette – ?“

„Ich weiß nicht, wie die junge Dame heißt, aber der Hauptmann hatte ordentlich Respect vor ihr, als sie ihm so dreist die Wahrheit sagte, daß es eine Schande sei, sich an einem Unschuldigen zu rächen und einen Wehrlosen wie einen Feind in Waffen zu behandeln. Ja, das sagte sie ihm.“

Ein ganz eigenes Gefühl von Wohlsein kam über sein junges Herz, das noch vor Kurzem so ängstlich bedrückt geschlagen hatte. Er war frei, und ihr dankte er seine Freiheit – ihr, das war die Hauptsache. Konnte er ihr gleichgültig sein, wenn sie so lebhaft für ihn Partei nahm? Unmöglich – sein frohgemuthes Herz antwortete: unmöglich! Er eilte an den Brunnen, wusch Gesicht und Hände mit dem kühlen Wasser und säuberte seine Kleidung von Stroh und Staub, wobei ihm die Wirthin behülflich war.

„Ich habe übrigens auch ein Wörtlein mitgeredet,“ sagte sie dabei. „Es sind schlimme Zeiten, und unser Haus ist ein Wirthshaus. Vorgestern hatten preußische Ulanen bei uns Quartier genommen, gestern unsere braven Freischärler; morgen – wer weiß? – überzieht uns wieder der Feind. Da gäb’s für uns einen hübschen Tanz, wenn es hieße, ein Preuße mit dem rothen Kreuz sei auf unserm Hof oder zehn Schritte davon erschossen. Kein Ziegel bliebe bei uns auf dem andern. Das hat der Hauptmann wohl einsehen müssen, und da er überdies dem jungen Fräulein einen Gefallen thun konnte … Sie verstehen wohl.“

Arnold, durch diese praktische Erörterung ein wenig herabgestimmt, drückte ihr ein Geldstück in die Hand und ging nach der Wirthsstube, wo seine Reisegenossen bereits gefrühstückt hatten. Es konnte also um den dritten Platz am Tisch diesmal keinen Kampf geben. Juliette stand am Fenster und schaute auf die Landstraße hinaus. Blanchard hatte eine Zeitung in der Hand, die wahrscheinlich von den Franctireurs zurückgelassen war, blickte oben über den Rand und grüßte ihn mit leichtem Kopfnicken. Er eilte auf das Mädchen zu, um seinem Dankgefühl Ausdruck zu geben, und bot ihm einen guten Morgen. Juliette wendete sich halb zurück, maß ihn mit einem kalten und stolzen Blick, verneigte sich sehr förmlich und inspicirte weiter die Landstraße, die ganz leer war. Arnold stand einen Moment ganz verblüfft; dann zog er sich langsam zurück. „So, so!“ sprach er halblaut vor sich hin, „ich soll nichts wissen; ich soll nichts merken, und vor Allem: ich soll mir nichts einbilden. Gut! wir sind also Feinde nach wie vor – ich will’s nicht vergessen.“

Er frühstückte ohne Appetit, so hungrig er auch war. Wenn sie dich erschossen hätten, dachte er, so wär’s aus gewesen mit allen diesen Faseleien des Herzens. Gleich darauf lachte er über sich selbst ganz laut und vernehmlich, so daß Blanchard von seiner Zeitung aufsah und selbst Juliette zu erschrecken schien – : so weit ist’s noch nicht mit uns und soweit kommt’s auch nicht.

Die Pferde wurden vorgeführt. Für die junge Dame war ein Sattel aufgetrieben, den ein Soldat zurückgelassen hatte. Er bot zwar einen ziemlich unsicheren Quersitz, war aber doch jedenfalls bequemer, als der knochige Rücken des Gauls, und hatte einen Steigbügel. Bis zur Eisenbahnstation hatte man nur noch einige Stunden.

Rose ging wieder vor den Pferden her; er vermied es, sich umzusehen, und sprach kein Wort, pfiff aber von Zeit zu Zeit ein lustiges Stückchen vor sich hin oder paffte eine Cigarre. Auch Juliette war schweigsam. Nach einer Weile äußerte sie den Wunsch, abzusteigen und der Abwechselung wegen eine Strecke zu Fuß zu gehen.

Du solltest einmal reiten, Papa,“ schlug sie vor, „Du siehst so ermüdet aus.“

Blanchard ließ sich nicht lange bitten.

„Gut, des Spaßes wegen,“ sagte er und stieg auf.

Juliette ging neben dem Pferde her, indem sie den Steigbügelriemen faßte und sich daran stützte. Arnold hatte den Zügel an den Reiter abgegeben und blieb mit dem anderen Pferde zurück. Er brauchte nun seinen Augen, die so gern auf der hübschen Gestalt ruhten, keinen Zwang anzuthun. Unter der Capote kräuselten sich so zierlich die Locken hervor – und die kleine Hand am Bügel – eine sehr kleine Hand!

Plötzlich wandte sie sich halb um und überraschte ihn in seinen zärtlichen Betrachtungen. „Sie sind ja heute ganz stumm,“ sagte sie mit spöttischem Tone. „Sie haben wohl die Nacht recht schlecht geschlafen?“

„Es ist nicht das,“ antwortete er so leichthin, als er’s über die Lippen bringen konnte. Das Herz schlug ihm heftig. Sie hatte sich also doch mit ihm beschäftigt, wie er mit ihr, und es schien ihr darum zu thun, ihn wieder freundlicher zu stimmen, nachdem sie ihn in der Wirthsstube so schnöde abgewiesen hatte.

Nach einigen weiteren Schritten ließ sie den Riemen los und blieb stehen, bis er vorüberkam. Dann ging sie neben ihm her, ein wenig hinkend, wie er erst jetzt bemerkte. „Wissen Sie,“ nahm sie das Gespräch wieder auf, „daß es Ihnen leicht hätte übel ergehen können?“

„So?“ fragte er. Es reizte ihn, sich von ihr selbst mittheilen zu lassen, was geschehen war. Kam es ihr darauf an, ihn zum Mitwisser zu machen? Und weshalb?

„Man hatte gute Lust, Sie zu erschießen,“ fuhr sie fort, „und Sie dürfen mir’s glauben, Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Sie lächeln. Es war aber eine sehr ernste Sache.“

„Und welchem glücklichen Zufall danke ich denn meine Rettung?“ fragte er weiter. Sein ganzes Gesicht lachte wirklich; es war ihm eine rechte Genugthuung, daß Juliette sich nun genöthigt sah, ihren Dank abzuholen, den sie vorhin so billig hätte in Empfang nehmen können.

„Keinem Zufall,“ entgegnete sie, den Blick senkend. „Ich habe Sie losgebeten.“

„Sie, mein Fräulein – ?“

„Ich!“

„Das ist Ihrer Feindschaft gewiß recht schwer geworden.“

„In der That: recht schwer.“

„Aber die Humanität – “

„O, nichts der Art, ich versichere Sie.“

„Eine Grille also – “

„Auch das nicht. Ich hatte meine guten Gründe. Und deshalb eben spreche ich davon. Hätte ich Ihnen etwas Liebes erweisen wollen, so würde mir das Bewußtsein einer guten That genügen, und hätte ich aus Laune gehandelt, so würde ich mich setzt wahrscheinlich meiner Voreiligkeit schämen, aber ich that mit sicherem Bedacht, was ich that, und es ist durchaus nothwendig,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_246.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)