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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


am meisten in die Augen fallend war aber der Kaufmannsstand, wenigstens in der Physiognomie der Baulichkeiten, ausgeprägt. Fast in jeder Straße gab es ein großes Kaufmannshaus, mit dem Giebel nach der Straße, im Stile der alten Hansestädte.

Ein solches Haus stand auch in der Knopfstraße; es war das einzige dieser Art darin und darum desto auffälliger. Schon als kleines Mädchen betrachtete ich das alte düstere Haus mit Scheu und Interesse. Die schmale Giebelfront zeigte vier Fenster und eine eichene Hausthür mit messingenen Klopfern in Form eines Rosses. Zwei alte Linden, welche alljährlich scharf beschnitten wurden, um die Zimmer nicht ganz zu verdunkeln, beschatteten die Fenster und die steinernen Ruhesitze, welche von der Hausthür bis zu den Lindenstämmen hinliefen. Ein langer Seitenflügel mit sechs bis acht hochgelegenen Fenstern nach der Fährstraße zu wurde von der Morgensonne beschienen. Wie schön blüheten an den beiden ersten dieser Fenster, welche nach der Ecke zu lagen, zu jeder Jahreszeit die herrlichsten Rosen, während hinter den anderen erblindeten Fenstern nur hohe Repositorien, mit Büchern angefüllt, sichtbar waren!

Das Haus gehörte dem Buchhändler Ritius, einem alten hageren Manne von stets tadelloser Toilette, mit glattrasirtem Kinn, weißer Halsbinde und kurzgeschorenem gepudertem Haar, welcher alten Mode er und einige andere hochbejahrte Herren der Stadt noch treu geblieben waren. Selten, vielleicht ein Mal im Jahre, sah man ihn ausgehen. Ein Garten, hinter dem Hause gelegen, diente zu seinen Spaziergängen, die er früh Morgens und spät Abends unternahm. Sonst saß er den ganzen Tag in dem einen Zimmer nach der Hauptstraße an einem Schreibtische, über welchen hinweg er durch ein kleines Fenster nach dem Hausflur jeden in den Buchladen Eintretenden bemerken konnte. Der Buchladen wurde von einem ebenso alten Herrn versehen, der schon seit der Gründung des Geschäfts die Kunden bediente. Nur wenige von diesen hatten den Vorzug, von Herrn Ritius selber nach ihrem Begehr gefragt zu werden, noch seltener kam er hinter seinem Schreibtische hervor.

Von meinem elften Jahre an ging ich täglich an dem Ritius’schen Hause vorbei, bald die eine, bald die andere Straße durchkreuzend, zu der nicht weit davon gelegenen Schule. Alle Schulbücher, welche ich brauchte, besorgte ich mir aus dem Buchladen des Herrn Ritius, und oft bekam ich von meinem Vater Bestellungen für Bücher, welche derselbe für seinen ausgebreiteten Wirkungskreis bedurfte. An heißen Sommertagen ruhte ich gern auf den kühlen Steinsitzen unter den schattigen Linden aus; wenn dieselben blühten und ihren wundervollen feinen Duft ausströmten, wünschte ich oft, dort sitzen bleiben zu können, und empfand nachher den Dunst der Bücherstube um so unangenehmer. Fast jedesmal, wenn ich den dunkeln Hausflur betrat, öffnete Herr Ritius das Fenster, um zu fragen, was ich begehre, und kam dann meistens aus seinem Zimmer, mir das Gewünschte selber zu geben oder auszusuchen, und bald war ich sein Liebling, mit dem er gern ein Viertelstündchen plauderte. Er ging auch wohl auf meine Bitte mit mir vor die Thür in den Schatten der Linden. Wie hübsch wußte der alte Mann auf das harmlose Geplauder des kleinen schwarzlockigen Mädchens einzugehen, das neugierig nach Allem fragte, was ihm hier sonderbar und abweichend erschien! Gewiß habe ich in dem Herzen des alten Mannes oft schmerzliche Saiten berührt, die vielleicht lange nachklangen, doch hinderte ihn dies nicht, mich jedesmal freundlich zu begrüßen, wenn ich wiederkam.

„Warum hast Du keine Frau, Onkel Ritius?“ fragte ich ihn einmal, „und keine Kinder? Dein Haus ist ja groß genug, viel zu groß für Dich und Herrn Schröder. Du kannst glauben, Deine Frau würde Alles hübsch hell und sauber machen, die Fensterscheiben von der alten Trine putzen lassen und weiße Gardinen vor die Fenster hängen – aber was ist Dir, Onkel Ritius? Ich glaube, Du weinst. O, sei mir nicht böse! Sie sind Dir wohl gestorben?“ fragte ich mit richtigem Verständnisse für die Ursache seiner Trauer.

„Jawohl, mein Kind, sie sind mir gestorben. Alles, was ich liebte, ist todt, in wenigen Wochen von schwerer Krankheit dahingerafft.“

„O, nun verstehe ich, warum Dein Haus so öde, so traurig aussieht; nicht einmal zu Pfingsten schmückst Du es mit Maien.“

„Zu Pfingsten schmücke ich stets die Gräber meiner Lieben, und dies ist mein einziger Ausgang im ganzen langen Jahre,“ sagte mit tiefem Seufzer mein alter Freund, „und jedesmal lege ich dann die Rosen, welche Du im Eckzimmer hast blühen sehen, so viel deren da sind, auf die stillen Hügel. Meine Frau liebte sie so sehr, die Rosen, besonders die weißen Theerosen.“

„O, ich liebe sie auch, alle Rosen, alle Blumen.“

„Mögest Du immer nur Freude daran haben und nicht wie ich mit Wehmuth jede neue Knospe sich erschließen sehen! Gott erhalte Dir den fröhlichen Sinn, mein liebes Kind! Du wirst gewiß manche Rose brechen, um Dich zu heitern Festen damit zu schmücken, und wenn Dir einmal solche im frischen Kranze fehlen sollten, so weißt Du, Onkel Ritius hat für seinen Liebling immer einige übrig – wenn es nur nicht zu Pfingsten ist.“

Der alte Herr war immer mild, auch in seiner Trauer noch wohlwollend gegen mich gestimmt. So waren allmählich drei Jahre dahin gegangen, für mich weniger bemerkbar, da ich nach beinahe zurückgelegtem vierzehnten Jahre, noch zart und behende am Körperbaue, dasselbe bald wilde, bald sinnige Kind geblieben war. Die Schularbeiten häuften sich; dazu kamen Musikstunden, und zu meinem Bedauern konnte ich meinen mir so lieb gewordenen Verkehr mit Herrn Ritius nur selten pflegen. Da, einmal nach Pfingsten, sah ich, daß zwei Fenster der Seitenfront geöffnet waren, blank geputzt und Vorhänge davor, die dem Hause sofort einen wohnlichen Charakter aufprägten. Die Repositorien waren entfernt. Die Ballen Bücher hatten ein Zimmer weiter Platz gefunden.

Was war nur das? Das mußte ich wissen. Ich hatte ja einige Musikstücke umzutauschen, und da am Sonnabend Nachmittag keine Schule und mein Musiklehrer erkrankt war, konnte ich ja ein Stündchen meinem alten Freunde zu Liebe verplaudern. Ich glaube gar, ich war neugierig. Kaum hatte die Glocke der Hausthür beim Oeffnen derselben ihren Ton erschallen lassen, da stand Herr Ritius schon von seinem Schreibtische auf; er hatte mich erkannt, und mit einem wirklich sonnigen Gesichte begrüßte er mich, indem er mir die schwere Notenmappe aus der Hand nahm.

Noch ehe ich mich zu einer Frage entschloß und wir Beide den Buchladen betraten, kam auf des alten Herrn Ruf „Arnold!“ ein Jüngling aus dem Nebenzimmer. Der von spärlichem Tageslichte beleuchtete Raum, der durch die alten Linden noch mehr verfinstert wurde und zu seinem steten Bewohner, dem alten Schröder, so gut paßte, schien sich plötzlich zu erhellen. Dieses frische Gesicht mit einem Paar lebendiger Augen, umwallt von blondem Lockenhaare, war mir ganz fremd; das hatte ich noch nicht in meiner Vaterstadt gesehen, wo sich doch sonst alle Leute kannten.

„Komm her, mein Junge, begrüße meine kleine Freundin, die mich oft bedauert, daß ich so allein in der Welt stehe! Ja, ja, mein Töchterchen, das ist eine Ueberraschung! Und auch Du bist gewiß davon überrascht – das sehe ich, denn Du kleines Plappermäulchen hast ja gar keinen Willkomm für meinen Neffen Arnold, den ich als Sohn in mein Haus genommen, und der mir wieder den Anfang einer Familie bilden soll.“

„Sie haben mir ja gar nichts davon gesagt, Herr Ritius; ich war zwar lange nicht hier, aber heute sah ich –“

„Was sahst Du?“ fragte er, indem er mein Kinn in die Höhe hob, und ich fühlte, vor Verlegenheit wie mit Blut übergossen, daß ich meine Neugierde verrathen hatte.

„Daß zwei Fenster nach der Fährstraße so hübsch von außen aussehen.“

„Ja, ja, das hat sie gleich mit ihren Mädchenaugen erspäht. Nun, siehst Du, da wieder ein Sonnenstrahl in mein altes Haus eingekehrt ist, der hoffentlich auch mein altes Herz wieder erwärmen und jung machen wird, da muß Alles in schöner Harmonie sein, wie in der Musik, die Du so sehr liebst. Und nun laß’ es Dir angelegen sein, Arnold, dem kleinen Fräulein immer recht hübsche passende Musikstücke auszusuchen! Du verstehst es besser als ich und Schröder.“

Und der junge Lehrling suchte mir Noten aus, und wir plauderten dabei. Aber es schien mir, als ob er zum Aussuchen viel mehr Zeit gebrauchte, als Herr Ritius und Herr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_441.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)