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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


kaufen und verkaufen ohne Geld, nur auf Credit; sie verkaufen Papiere, die sie gar nicht haben, und sie kaufen Effecten die sie nie abzunehmen gedenken.

Die Coulisse zerfällt in zwei Lager, in die Hausse- und in die Baisse-Partei. Jene speculirt auf das Steigen, diese, auch Contremine genannt, auf das Fallen der Papiere. Die Zeitgeschäfte sind von so mannigfacher Art wie die Thiere in der Arche Noah’s. Wir könnten Bogen darüber schreiben und der nicht eingeweihte Leser würde uns doch nicht verstehen. Die berühmten Mysterien zu Eleusis waren gar nichts dagegen.

Zehn Minuten vor Zwölf.

Die Thüren werden geöffnet. Die „Vorbörse“ löst sich auf. Von allen Seiten strömen die Jünger Mercur’s herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen, in Droschken zweiter und erster Classe, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen mit galonnirten Kutschern und Bedienten. Es kommen die „jungen Leute“ (Commis), die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers; es kommen die „Häuser“ und die „großen Häuser“.

Alles drängt und fluthet in das Vestibül, wo ein Portier und zwei Controleure Wache halten, drei stattliche Figuren in schmucker Uniform und, wie alle Bedienstete und Unterbeamten, christlich-germanischer Abkunft. Links geht es zur Fonds- oder Geldbörse, rechts zur Producten- oder Waarenbörse. Hier ist der Zuspruch verhältnißmäßig schwach, dort stark und massenhaft. Eine mächtige Thür, in Form eines mit grünem Tuche ausgeschlagenen Drehkreuzes, das man geschickt und behutsam benutzen muß, bildet den Zugang. Bei jeder Umdrehung werden wohl ein viertelhundert Personen befördert, und zwar im Geschwindschritte. Trotzdem schlüpft so leicht Keiner durch. Der Controleur kennt Jeden, und wen er nicht kennt, den hält er an, fragt nach der „Karte“ oder nach dem „Hause“ und führt den Unberechtigten höflich am Kragen wieder hinaus.

Wir sind nicht Mitglied der Kaufmannschaft, haben keine Eintrittskarte gelöst; also steigen wir auf die Galerie, wo der Zugang ohne Weiteres für Jedermann, auch für Damen, freisteht. Unten, im Börsensaale selber, werden, mit Ausnahme der Heben am Büffet, nur Männer gelitten.

Wir befinden uns in dem größten geschlossenen Raume Berlins. Der Börsensaal ist beispielsweise dreimal so groß, wie der früher viel bewunderte Königssaal bei Kroll. Er faßt über 5000 Personen. Er ist großartig und prächtig, vielleicht etwas zu reich geschmückt. Polirte, aus einem Stück bestehende Säulen von schlesischem Granit, 128 an der Zahl, tragen, in zwei Reihen über einandergestellt, eine umlaufende Galerie. Die 65 Fuß hohe gewölbte Decke ist ebenso wie der getäfelte Fußboden von kunstreicher Arbeit. Eine offene Arcade, über welche eine nach beiden Seiten hin sichtbare Uhr mit doppeltem Zifferblatte angebracht ist, theilt den Saal in zwei Hälften: die nördliche gehört der Geld-, die südliche der Getreide-Börse, und beide sind von den Sitzreihen der Handelsfirmen durchzogen.

Zwölf Uhr.

Der Saal ist gefüllt. Die officielle „Börse“ hat begonnen. Wir blicken auf ein Meer von Köpfen, theils voll von meist dunkeln, blanken oder wolligen Locken theils gelichtet und kahl und erglänzend wie silberner Mondschein. Unten sind Tausende von Lippen in Bewegung. Man spricht; man ruft; man schreit – aber wir verstehen kein Wort. Nur ein Murren, ein Murmeln klingt herauf und schlägt gegen die Wände und schlägt bis zur Decke. Was ist dagegen das Gemurmel, welches wir neulich beim Gastspiele der Meininger im „Fiesco“ hörten, das künstliche Gemurmel des aufgeregten Volks? Ein schwaches fragwürdiges Summen. Hier dagegen haben wir Natur und Kraft; hier redet Israel in begeisterten Zungen, in den unnachahmlichen eigenartigen Kehlhauchen und Gaumenlauten. Es rauscht wie der Wald vor dem ausbrechenden Gewitter; es braust wie die See nach dem Sturme.

Wir schauen hinab und suchen nach einem bekannten Gesicht. Plötzlich entdecken wir Herrn Cohn und der Zufall will’s, daß er auch uns bemerkt. Er grüßt und nickt; er lächelt und winkt, und wir eilen hinab. Es leben in Berlin circa 500 mehr oder weniger ausgewachsene Männer, die sich Cohn oder Kohn schreiben, aber fast alle mosaischen Glaubens sind und fast alle für den Handel schwärmen. Gut die Hälfte der Cohn’s geht täglich an die Börse, und zu diesen gehört auch unser Freund Cohn. Seinen Vornamen nennen wir nicht, denn wir wissen ihn nicht. Herr Cohn ist „corporirt“, das heißt Mitglied der Kaufmannschaft. Er hat das Recht, Fremde einzuführen; er erwartet uns am Drehkreuz, reicht uns seinen Arm, und wir spazieren durch die geräumige Garderobe, wo leider seit dem „Krach“ häufig Regenschirme, Hüte und Paletots verschwinden, in den Börsensaal.

Der Eintritt ist nur von den Seiten. Die beiden Längswände sind von je dreizehn Thüren durchbrochen, welche mit den Thüren des Vestibüls correspondiren. Die nach der Vorhalle hin werden nie geöffnet, weil sonst die ganze Börse vor Zug auffliegen würde, wohl aber die gegenüberliegenden, welche in einen Säulenhof führen, wo man im Sommer Luft schöpft.

Die Börse ist lange nicht mehr so besucht, wie in den Jahren 1871 bis 1873. Trotzdem herrscht noch immer Gedränge, staut und stopft sich zuweilen die Menge, und wir müssen uns dann mit Armen und Schultern Bahn brechen. Täglich melden die Zeitungen eine größere und größere „Geschäftsstille“, die „kaum noch überboten werden könnte“. Aber dem Fremden wird das Leben und Treiben heute noch imponiren. Mindestens neun Zehntel der Anwesenden stammen aus dem gelobten Lande. „An den hohen jüdischen Festtagen“, wie es in den Berichten heißt, ist die Börse leer und verödet.

Auf erhöhten Plätzen, umgeben von Schranken, sitzen die Makler, welche die Geschäfte zwischen Käufer und Verkäufer vermitteln. Sie erhalten ihre Aufträge vor und während der Börse von den Banquiers oder von den Speculanten, verkehren also nicht mit dem Publicum selber, und fertigen über die abgeschlossenen Geschäfte Schlußzettel, Schlußnoten oder bloße Notizen aus. Banquiers oder Speculanten handeln aber auch, ohne Makler, direct mit einander. Es giebt amtliche angestellte oder vereidete Makler und unvereidete oder Pfuschmakler. Zwischen Beiden besteht kein besonderer Unterschied, auch vermitteln die Pfuschmakler nicht selten mehr Geschäfte als die vereideten Makler. An der Fondsbörse bilden allein die Makler mit ihren Gehülfen ein Corps von mehreren Hundert Personen, während die Zahl der anderen Besucher: Banquiers mit ihren Commis, Speculanten, Private etc. durchschnittlich wohl über 2000 beträgt.

An einer Maklerbarre werden Staatspapiere, Pfand- und Rentenbriefe, Wechsel und Geldsorten, Hypotheken-Certificate und Lotterie-Anleihen gehandelt, an der andern Eisenbahnpapiere, an der dritten Bank-, an der vierten Industrie- und Versicherungs-Actien. Ist das Geschäft lebhaft, so sind die Maklerschranken wie vollgepfropft, und jede Barre ist von einem drei- bis zehnfachen Gürtel umlagert. Auf den Fußspitzen stehend und sich fast die Hälse ausrenkend, wirft man sich Fragen und Antworten zu, handelt man über die Köpfe von sechs Vordermännern hinweg: Köln-Mindner oder Rheinische Eisenbahn-Actien, Darmstädter Bank und Meininger Credit, Harpener Bergbau und Bochumer Gußstahl. Die Gesammtzahl der Papiere, welche an der Berliner Börse Cours haben, ist auch gegen 2000.

Die Banquiers erhalten von ihren Kunden eine Provision, welche 1/8 bis 1/4 Procent vom Nennwerthe der gekauften oder verkauften Effecten beträgt. Die Makler erhalten von den Banquiers und Speculanten eine Courtage, vom Käufer wie Verkäufer gewöhnlich 1/2, also zusammen 1 pro Mille. Erscheint namentlich die letztere Gebühr nur klein, so haben doch verschiedene Makler, als das Geschäft noch blühte, durchschnittlich mehrere Hundert Thaler Courtage an einem Tage eingestrichen, woraus man entnehmen kann, wie riesig der Umsatz gewesen ist. Selbst heute giebt es noch Makler, welche durch Vermittelung von Zeitgeschäften eine tägliche Einnahme von circa 50 Thalern erzielen. Viele ihrer Collegen dagegen, besonders die, welche in Industriesachen handeln, machen gegenwärtig sehr schlechte Geschäfte.

Trotz der „miserabeln Zeiten“, trotz der „drückenden Geschäftsstille“ herrscht in einem Theile des Saales, in der südwestlichen Ecke, stets arges Gedränge und wildes Getümmel. Es ist das Lombarden-Viertel; es ist das Reich der Coulisse und der Pfuschmakler. Hier werden nur Zeitgeschäfte gemacht;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_455.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)