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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Führer legte auch ein Steinchen dazu und erzählte: „Hier ruht Lea, die schönste und herrlichste Jungfrau des Ghetto. Sie war die glückliche Braut des jungen Aron. Da kamen die Christen wieder einmal gestürmt und schrieen nach Judenblut – denn die Juden sollten ein Kind geschlachtet haben. Und die Christen warfen Feuer in den Ghetto und schwangen die Schwerter und wollten sich durch nichts beruhigen lassen, als durch warmes rothes Judenblut. Dachte Lea an ihr Volk? Dachte sie nur an die Gefahr, die ihrem Aron drohte? Sie trat muthig vor und gab lächelnd ihr Blut dahin. Zur Ehre ihres Gedächtnisses legt jeder Jude, der das Haus des Lebens betritt, ein Steinchen auf Lea’s Grabstein.“

Wir aber legten unsere Maiblumen auf das versunkene Grab der Jüdin nieder, die eine glückliche Braut war und dennoch die Kraft des Herzens besaß, diesem sonnigen Leben freiwillig zu entsagen – um der Liebe willen.

„Wo wird mein Grab dereinst gegraben werden? Wer wird mir ein Liebeszeichen auf’s Grab legen? Glückliche Lea!“ sagte Sabine leise, und ihr schönes Auge erglänzte in Thränen.

„Ach, die ganze Geschichte ist ja nicht wahr!“ lachte Kathinka. „Wer wird auch so dumm sein, selbst um den allerschönsten Aron in den Tod zu gehen, wenn man jung und hübsch und geliebt ist! Solche Geschichten lasse ich mir höchstens nur im Trauerspiele oder in der tragischen Oper auf der Bühne gefallen. Aber im Leben – vive la joie! vive l’amour! et vive la bagatelle! wie Yorick’s Tambour schreibt. Und ich dürste nach Leben, nach Sonnenschein, nach fröhlichem Lachen und blanken Augen. Puh! Hier unter dem hundertjährigen Gräberunkraute und den verwitterten Steinen und alten dummen Judengeschichten ist’s zum Sterben langweilig. Und Ihr macht dazu sentimentale Mondscheingesichter, als möchtet Ihr hier unter den garstigen Hollunderbüschen nächstens selber um freundlich Quartier bitten. Geschwind nach der grünen Moldauinsel zurück zu Concert und Feuerwerk. Ich hab’s heute Mittag noch meinem anbetenden Obersten auf Ehre, dem blonden Lieutenant auf Schnurrbart und dem feschen Grafen Studio auf Cerevis versprochen, daß wir den holden Maiabend auf der Insel verherrlichen wollen.“

Sollte dieses liebreizende Geschöpf wirklich kein Herz haben? Auf der Insel war die ganze glänzende und fröhliche Welt Prags versammelt. Die prächtige Regimentsmusik rauschte; funkelnde Leuchtkugeln Schwärmer und Raketen zischten durch den duftigen Abend und spiegelten sich wieder in der wogenden Moldau; schöne Menschen wandelten lachend und plaudernd durch die blühenden Gebüsche. Kathinka Heinefetter in ihrem luftigen weißen Kleide mit meergrünem Aufputz war die verführerischste Sylphide und zugleich das übermüthigste Kind, dem das Vergnügen aus den Augen strahlte, sich von so viel glänzenden Cavalieren umschwärmt zu sehen. Jetzt nahm sie mit dem coquettsten Lächeln und Wohlbehagen die Huldigungen eines pompösen fürstlichen Obersten auf; im nächsten Augenblicke schien sie nur Auge und Ohr und Lächeln für den kecken blonden Lieutenant zu haben, um fünf Minuten später dem „feschen“ gräflichen Studio das zündstoffreiche glückliche Herz vollends in Brand zu setzen.

Sabine machte der Schwester zu Hause ernstliche Vorwürfe über ihr unpassendes Benehmen. „Kind, wohin soll das führen? Dein unbesonnenes Herz wird Dich, uns Alle noch unglücklich machen.“

„Ah, wenn nur erst der Rechte kommt, der es versteht, dieses kleine rebellische Herzchen einzufangen und zu fesseln!“ sagte ich einlenkend. „Wie vernünftig werden wir da und wie geduldig! Ich wünsche Kathinka recht bald einen geliebten Tyrannen.“

„Ich – heirathen?“ flammte der Irrwisch in possirlichem Schreck auf. „Ich eine gesetzte ehrbare Hausfrau, die Strümpfe stopft, Knöpfe annäht, Butterbrode schmiert, zwanzig, vierzig, fünfzig Jahre täglich dasselbe Lied? Ich stürbe vor Langerweile. Nein, ich gehe nach Paris und werde eine berühmte Sängerin und bleibe mein Lebenlang freie Künstlerin. Trala! trala! trala!“ Und übermüthig trällerte sie mit der hellen frischen Vogelstimme die Melodie: „Heut’ lieb’ ich die Johanne und morgen die Susanne …“

Und doch konnte man dem reizenden Wildfang nicht böse sein.

Wie sonnig, wie übermüthig strahlte Kathinka am heiligen Nepomukstage, dem 16. Mai! Sie ruhte nicht, bis sie auch uns in das augen- und ohrenverwirrende Gedränge der Straßen und auf die berühmte Karls-Brücke geschleppt hatte. Meilenweit waren die Landleute in ihren originellen bunten Trachten herbeigeströmt, dem regenspendenden Schutzpatrone Böhmens, Johannes Nepomuk, fromme Ehre zu erweisen. In allen Gassen, auf allen Plätzen und in allen Kneipen schwirrte zu Fiedel, Cymbel, Harfe und Dudelsack das böhmische Nationallied, das mein alter College Genast verdeutscht hat:

O heil’ger Johann Nepomuk.
Der Du stehst auf der Prager Bruck,
Der Du hast mussen
Dein Leben bußen
Im Moldau-Flussen!

Und er stand da auf der „Bruck“ in der ganzen Pracht seines höchsten Festtages, um das ehrwürdig verwitterte Steinhaupt goldene Strahlen, reich mit Rubinglas besetzt, von brennenden Lämpchen und duftenden Blumen umgeben. Zu seinen Füßen Hunderte von armen bethörten Gläubigen, die da eine steinerne Puppe anbeten, ansingen, anweinen.

Auch ein armer Jude fand in der Moldau unter der Nepomuk-Brücke den Tod. Er wurde 1606 vor dem Tribunal-Appellatorium angeklagt, das heilige Kreuz der Christen geschmäht zu haben, und verurtheilt: daß aus seinem confiscirten Vermögen auf der Brücke ein riesiges steinernes Crucifix errichtet werde. Da stürzte der Jude verzweifelnd sich von der Brücke in die Moldau hinab. Das Crucifix steht noch heute da.

Die liebreizende Kathinka aber that am 16. Mai 1835 dem heiligen Nepomuk auf der Prager Bruck ungeheuern Schaden. Sie durfte sich rühmen, von dem unewig Männlichen an jenem Tage noch glühender angebetet zu sein, als der steinerne Schutzheilige vom ganzen Böhmerlande.

Am andern Tage nahmen wir Abschied mit einem herzlichen: „Auf baldiges, frohes Wiedersehen in Dresden!“ – Sabine fuhr einem neuen Gastspiel entgegen. Ich führte das meine in Prag zu Ende.




Blätter und Blüthen.


Ein Gedicht von Schiller’s Schwester Christophine. Durch Herrn Landkammerrath Vogt in Weimar geht uns als ein werthvolles Andenken nachstehendes Gedicht zu. Schiller’s älteste Tochter, Caroline, die Gattin des Bergraths Junot, übersandte ihm, begleitet von einem Briefe aus Rudolstadt vom 8. Decbr. 1849 und der Bemerkung: „Zum freundlichen Andenken an unsern Ausflug nach Ettersburg etc.“, eine Abschrift von diesem Gedicht ihrer Tante Reinwald (siehe den Artikel „Schiller’s Lieblingsschwester“ von Ernst Ziel, Nr. 20 d. Jahrg.), das dieselbe an ihrem sechsundachtzigsten Geburtstage, am 4. September 1843, niedergeschrieben. Es lautet so:

Mein Gebet.

     Hier auf der Höhe des Lebens.
Wo ich hinüber in jene Gegenden sehe
Voll ewigen Friedens und voll süßer Ruhe –
     Hier bin ich, Gott meiner Tage,

5
Und bringe Dir – vielleicht zum letzten Male

Mit diesen sterblichen Lippen mein armes Opfer
Mit Gebet und Dank!
     Du warst mir Gnade und Güte
Von Jugend auf, mein ganzes Leben.

10
Und ich kenne Dich nur durch Wohlthat und Zärtlichkeit.

Du gabst mir Leben und Kräfte
Und Güter so viel als meine Nothdurft war;
Und diese zahlreichen Jahre
Und dieses Herz voll Liebe zu Dir.

15
     So nahe dem Ziel meiner Tage

Und jeder irdischen Wünsche satt,
Bet’ ich den höchsten der Wünsche:
Den guten Tod, den der Erlöste stirbt!
     Laß mich, o Herrscher des Todes.

20
Hinüberschlummern, im Herzen seligen Frieden

Und Hoffnungen auf ein unsterblich Glück! –
     Sei meinen Brüdern, den Menschen,
Ein Gott, wie Du mir es warst,
Ein Gott voll Gnade und Güte,

25
Und laß’ sie leben in der Liebe und heiligen Furcht

Vor Deinem Angesicht!



Kleiner Briefkasten.

A. M. in Sch. Nein, die bildlichen Darstellungen der Enthüllungsfeier des Hermann-Denkmals wird uns Knut Ekwall liefern, der sich in unserem Auftrage schon acht Tage vor der Feier, behufs eingehender Studien, nach Detmold begeben wird.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_484.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)