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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


hohe Zeit, daß ich mich wieder auf den Weg mach’,“ sagte sie, „ich hab’ noch eine gute Weil’ zu laufen, bis ich an den Ort komm’, wo ich morgen Stöhr’ habe, und wenn ich nicht vor Nacht da bin, könnten die Leute wohl gar schmälen – also behüt’ Dich Gott, Zachariesel!“

„O, bleib’ nur noch ein wengel (wenig),“ sagte er, „oder laß mich mit Dir gehen!“

„Ich kann nimmer warten,“ erwiderte sie mit leichtem Erröthen, „und das Mitgehen thät’ sich nicht schicken – es ist von wegen der Leut’. Das Wetter hat sich auch aufgehellt, und so find ich meinen Weg schon allein; also nochmal: b’hüt’ Dich Gott, Zachariesel!“

Sie ging, und er machte keinen Versuch, sie zu halten. Sein ganzer Abschied bestand in einem halblauten „B’hüt’ Gott!“ Er sah ihr nach bis an die Wendung des Waldweges, dort wendete sie sich, sah zurück und nickte ihm zu. Es wollte ihm bedünken, als wäre ihr Gesichtchen dabei nicht mehr so freundlich gewesen, wie zuvor oder bei dem Gruße über den Erlingerzaun. Darüber faßte ihn mit einmal eine gewaltige Unruhe; es war ihm, als ob ihn im Augenblicke ein ganz ungeheurer Verlust träfe, als müsse er ihr nach, um sie zurückzuhalten; er bezwang sich aber, setzte sich ruhig auf den Schemel der Betbank nieder und sah starr vor sich hin, in die einbrechende Dämmerung hinein. Wirr jagten seine Gedanken durch einander, wie die feuchten Flocken, welche auf den Waldweg niederfielen.

Und als wäre keimender Frühling um ihn und nicht tödtlicher Winter, so farbig und reich sprossen vor seinen inneren Augen Erinnerungen aus seinen Bubenjahren auf, wie Feldblumen auf einem frischgrünen Rasen. Er sah, als wär’ es gestern gewesen, wie einmal ein Mann mit einem Schleiferkarren spät Abends auf das Gut gekommen, der eine Frau und ein kleines Mädchen bei sich hatte und um Nachtherberge bat, weil er krank und außer Stande war, das nächste Dorf zu erreichen. Der Vater war zwar dagegen gewesen und wollte von solchen Strolchen und Streunern nichts wissen, aber die Mutter redete gut für sie, und während des Gesprächs der Eltern waren die unbefangenen Kinder rasch mit einander bekannt geworden. Am andern Tage aber hatte es großen Jammer gegeben, denn der fremde kranke Mann lag starr und todt auf seinem Strohlager in der Scheune – er hatte sich, ohne daß es die Seinen gemerkt, in aller Stille aus dem Leben fortgeschlichen.

Zachariesel hörte in seinen Ohren noch die Jammertöne, mit welchen die so plötzlich Wittwe gewordene Frau sich über den Leichnam warf, und wie bitterlich das arme Waischen schluchzte und immer wieder den Todten an der starren Hand faßte, als müßte ihn die Berührung des kleinen Julei wecken, das er so lieb gehabt. Er sah das Bild vor sich stehen, wie man den fremden Mann an der Kirchhofmauer eingrub, wie er selbst dabei das Julei an der Hand führte und ihr den Inbegriff seines Bubenglücks, eine Schachtel voll rothröckiger Bleisoldaten versprach, wenn sie zu weinen aufhöre. Er entsann sich, wie dann eines Morgens die Frau mit dem Schleiferkarren fortgezogen sei, das Mädchen aber zurückgelassen habe; sie wollte gehen, um Unterkunft zu suchen, und dann wiederkommen, das Kind abzuholen. So war das Julei geblieben und ihm durch eine lange Reihe glücklicher Kindertage eine Gespielin geworden, die bald, Vater und Mutter beinahe vergessend, in der Fremde eine Heimath gefunden hatte. Lebhaft tauchte im Gemüthe des Sinnenden auch das Schreckbild des Morgens auf, als er beim Erwachen erfuhr, die fremde Frau sei in der Nacht da gewesen und habe ihr Kind mitgenommen – ihn selbst hatte man nicht geweckt, um ihm den Schmerz der Trennung zu ersparen. Was dann geschehen, verschwamm in unklaren Bildern; er war in eine schwere Krankheit verfallen, und als er wieder genesen, war mit der Lebhaftigkeit der Erinnerung auch die Gewalt des Schmerzes gebrochen – neue Gespielen, neue Freuden sproßten um seinen Weg durch das junge Leben, wächst doch auch über Gräbern wieder Gras.

Dennoch begriff er nicht, wie Julei’s Bild ihm so ganz zu entschwinden vermochte, und sein Herz zog sich wie krampfhaft zusammen, wenn er an seine Leidenschaft für Mechel gedachte; es wollte ihm scheinen, als wäre es nur die unerkannte Aehnlichkeit mit Julei gewesen, was ihn an Mechel gezogen und gefesselt, als sei es eigentlich immer nur Julei gewesen, die er in ihr geliebt. Wie um sich selbst zu entfliehen und seinen eigenen Gedanken, sprang er endlich auf und rannte ziellos durch Sturm und feuchtes Schneegestöber davon.

Mehrere Tage hatte das Unwetter fortgestürmt. Der warme Föhn ließ nicht nach, so daß trotz des wolkenbedeckten Himmels der Schnee zerschlich und die Eisdecke des Sees brüchig wurde; von unten stiegen und wallten nach der Ansicht des Landmanns die warmen Grundwasser empor und sprengten den Panzer, wo er noch fest anlag, die Ammer aber goß ihre steigenden Wellen darüber hin und schob manchen Eisblock mit, daß die Schollen sich stauten, an- und übereinander emporstiegen und zu treiben begannen.

Es war ein wilder, hartnäckiger Kampf, den der nicht enden wollende Winter mit den Gewalten kämpfte, die der Frühling plötzlich als Vortrab voraus gesandt hatte – In einer düstern Bauernstube in einem Dorfe an den ersten Abhängen der Berge tobte ein ähnlicher Kampf; ein erlöschendes Leben wehrte und stemmte sich mit den letzten Kräften und Aengsten gegen den Tod, der unerwartet die unerbittliche Hand nach ihm ausstreckte, dem Vogel ähnlich, der vor der Hand, die in den Käfig greift, um ihn zu fassen, erschrickt und scheu hin und wider flattert und sich Kopf und Flügel zerstößt. Die Nachricht, daß es schlimm um Kuni’s Mutterschwester stehe, hatte vollen Grund gehabt, und das Mädchen war der Leidenden zur guten Stunde und wie ein guter Geist gekommen; der Geist, der bis dahin dort gewaltet, war jene Hast und Unruhe gewesen, welcher die Erde als eine große Werkstatt und das Leben als ein Tretrad in derselben erscheint, welche Tag um Tag in der Sorge des Nichtgenügens an der harten bittern Schale der Arbeit nagt, ohne jemals die Süßigkeit ihres Kerns zu genießen.

Kuni hatte die Base kaum gekannt und jedenfalls sehr selten gesehen; sie war eine übellaunige, vergrämte und vergrimmte Frau gewesen, die in reifen Jahren einen viel älteren Mann geheirathet hatte und nach dessen baldigem Tode viele Jahre kinderlos auf dem nicht unansehnlichen Söldengütchen forthauste und von den Verwandten, deren sie nicht bedurfte, ebenso wenig wissen wollte, als von den Bewohnern des von ihrem Hause etwas entfernt liegenden Dörfchens. Da man bei verschiedenen Anlässen ihr abstoßendes Wesen erfahren, hatte man sie gewähren lassen; desto mehr machten ihr die Seitenverwandten ihres Mannes das Leben sauer, die es nicht verwinden konnten, daß ihnen durch sie das Gütchen entzogen war, das er ihr als Wittthum verschrieben hatte. Eine große hagere Gestalt mit ernsthaften, fast männlichen Gesichtszügen, hatte sie dasselbe bewirthschaftet, nicht als Herrin in ruhig thätigem Genusse, sondern im Schweiße ihres Angesichts als ihr eigener erster Dienstbote, hadernd mir ihrer ganzen Umgebung, wie mit sich selbst. Wie sie jeden Umgang und Verkehr mied, wurde sie auch bald gemieden, und grollte doch darüber, daß man es that, wie über ein Unrecht, das ihr widerfahren.

Bei ihrer zähen Körperbeschaffenheit hätte sie wohl das höchste Greisenalter erreichen können, aber ein Fall, den sie in ihrer steten Uebereile gethan, hatte sie am Fuße beschädigt, daß sie nicht mehr gehen konnte und das Lager suchen mußte, um sich nicht wieder von ihm zu erheben. Kuni wußte den Widerspruch des Vaters gegen einen Besuch bei der kranken Base bald zu überwinden und gab ihm insgeheim nicht Unrecht, wenn er ihr vorwarf, daß sie doch nur den Leuten und dem Gerede ausweichen wollte. Sie war seit der Geschichte mit dem Loostanze nur einmal in der Kirche gewesen, und es war ihr nicht entgangen, wie die Burschen gelacht, die Mädchen gezischelt, die Männer und Frauen aber die Köpfe zusammengesteckt hatten. Möglich auch, daß in ihrer Seele der vielleicht nicht ganz klar ausgesprochene Hintergedanke lag, daß sie selbst der Entfernung aus den gewohnten Verhältnissen und der Zurückgezogenheit bedürfe, um mit sich selbst über das Vorgefallene in’s Reine zu kommen, das auf ihr lag wie das Bewußtsein einer Schuld, wie die Erinnerung eines begangenen Unrechts, wenn sie sich auch wieder und wieder vergeblich zersann, worin dasselbe eigentlich bestehen sollte.

Die Base empfing sie mit einem Gemisch von Freundlichkeit und Groll. Es gefiel ihr, daß die Tochter des reichen Bauers kam, sie, die verhältnißmäßig arme Söldnerswittib zu pflegen, und doch konnte sie es nicht unterlassen, auf den muthmaßlichen

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