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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Schreck und volles Verständniß. Die plötzliche Ueberraschung hatte mir für einen Augenblick gänzlich meine gewohnte Selbstbeherrschung geraubt, Zenaïde mußte in meinen Augen so gut die entsetzte Anklage, wie ich in den ihrigen die ängstliche Frage gelesen haben. Es gab hier weiter keine Täuschung: sie konnte keinen Zweifel mehr hegen, daß ich wußte oder doch errieth, wo mein Brief geblieben war, und daß ich Wéra davon gesagt hatte, ebenso sicher aber verstand ich, daß sie darin den Grund zu Wéra’s Verzweiflung sah.

Ich raffte meinen Muth zusammen und bat die Bringerin der Hiobspost flehentlich um die Erklärung, daß sie wirklich nichts übertrieben habe, sie betheuerte hoch und heilig die Wahrheit ihrer Worte. Die innere Unruhe trieb mich aus dem Salon, den ich wankenden Schrittes verließ, um mich in der Einsamkeit des Musiksaales zu sammeln. Meine Gedanken wirbelten wüst durcheinander. Was kann die Unglückliche in ihren Fieberphantasien nicht Alles verrathen! – und dann wieder: Was wird das Ende dieser Wirrnisse sein? Und wenn die Krankheit eine gefährliche Wendung nähme – ich kann und mag den Gedanken nicht verfolgen. Armer Alexis, die Nacht wird noch quälender für Dich sein als für mich.


Den 26. Januar.

Zenaïde Petrowna ist sich wenigstens bewußt, daß sie es ist, die durch Unterschlagung des Briefes zunächst das Unheil angerichtet hat. Gewissensbisse und Angst lassen ihr keine Ruhe. Sie ist heute viel früher aufgestanden, als sonst ihre Gewohnheit ist, und hat Morgens gegen zehn Uhr schon selbst einen Diener zu den Adrianoff’s geschickt, um sich nach Wéra’s Zustand erkundigen zu lassen. Der Diener brachte die Antwort, das Fräulein sei so schwer krank, daß man eben den Priester hole, um ihr das Abendmahl reichen zu lassen. Madame wurde bei der Nachricht leichenblaß, und fast den ganzen Tag liegt sie vor dem Heiligenbilde in der Ecke ihres Zimmers auf den Knieen. Sie hat so sehr die Fassung verloren, daß sie sich nicht einmal mehr die Mühe giebt, ihre Gedanken, ihre Angst zu verbergen. Olga schleicht umher mit falschem Blicke, wie das böse Gewissen; sie vermeidet mich, wo sie kann. Ich selbst befinde mich wie in einem fortwährenden Schwindel und wandere umher, ohne meine Gedanken von diesem unglücklichen Ereignisse auch nur während der Dauer einer Secunde losreißen zu können. Fast bin ich in Versuchung, das Schicksal anzuklagen, daß eben ich es sein mußte, die Wéra durch den Bericht zum Aeußersten brachte. Und wenn sie sterben müßte, was sollte aus Hirschfeldt werden?!

Nein – ich kann nicht mehr schreiben; die Angst erstickt mich und treibt mich wieder empor. Da die Kälte etwas nachgelassen hat, werde ich versuchen in der Galerie frische Luft zu schöpfen.


Den 27. Januar.

Heute Morgen schickte unsere Gebieterin um dieselbe Zeit wie gestern zu Adrianoff’s, und diesmal brachte der Diener die Nachricht, es sei ein wenig, aber auch nur ein ganz klein wenig besser mit Wéra. Das war doch ein Hoffnungsstrahl, wenn auch nur ein schwacher, ein Aufathmen der müden Seele, die so gern hofft, wo sie mit allen Kräften wünscht, wo der Wunsch wie ein Gebet sich zum Himmel emporringt.

Die Herrin des Hauses trägt von diesem Augenblick an ihren Kopf wieder etwas höher und gönnt ihren Gliedern schon während einer geraumen Weile die Wohlthat, sich auf dem Divan unter den Palmenkronen auszustrecken, doch verlangt sie glücklicher Weise nicht, daß ich vorlesen oder spielen soll.

Der größte Theil des Tages schleppte sich so in Hoffen und Fürchten hin. Ich begab mich nach dem Diner in unsern jetzt verödeten Musiksaal, um darin eine Promenade zu machen, da mir mein Stübchen für die mich innerlich quälende Unruhe wirklich zu eng erschien.

Langsam schlenderte ich in diesem Raume auf und ab, in dem ich so manche bitter schmerzliche und auch wiederum manche Stunde des Glücks verlebt. Wenn ich den vereinsamten Flügel ansah, war es mir, als müsse Wéra’s liebliche Gestalt sich daran lehnen und auf die zerstreuten Notenhefte niederblicken. Wenn ich meine Augen schloß, glaubte ich im Geiste den sanften Ton ihrer Stimme zu vernehmen und zwischendurch wiederum den kräftigen, sonoren Klang jener anderen, nach welcher mein Herz sich all diese traurigen Tage hindurch schmerzlich gesehnt hatte. Sah ich nicht das rasche Aufleuchten jener wunderbaren Augen vor mir, wie sie verständnißinnig, vielsagend den Blick zu mir herübersendeten? Konnte ich mir eine Zeit denken, wo ich diese Augen nie mehr sehen sollte, wenn ihr Besitzer seinen oft geäußerten Plan zur Wahrheit machen und nach Moskau, nach Petersburg oder gar nach Paris gehen würde? Stand ich höchst wahrscheinlich nicht eben jetzt an der Schwelle der Entscheidung? Und dieses Leben ohne ihn – der Gedanke war wie der Blick auf eine öde, graue Steppe. Warum sollte ich mich selber täuschen? Wem verdankte ich die glücklichen Stunden künstlerischer Anregung, den Genuß, welchen eine geistvolle Unterhaltung gewährt, sei es über Musik oder ein anderes Thema? Nur ihm, der meinem Dasein hier einen geistigen Inhalt verliehen, der es mit Rosen geschmückt hat, wenn auch ihre Dornen mich blutig ritzen. Und jetzt wendet er sich vielleicht nach rechts und ich nach links, denn hier bleiben – so, wie so –

Plötzlich fuhr ich zusammen, als ich hart neben mir ein Geräusch hörte. Ich wendete mich rasch um – da stand er vor mir, der eben noch alle meine Gedanken beschäftigt – Hirschfeldt. Er war so bleich, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und in seinen Augen glühte es wie Fieber.

„Hirschfeldt! Mein Gott, was ist Ihnen?“ rief ich, ihm die Hand entgegenstreckend, und dann, noch bevor er im Stande war zu antworten, überlief es mich wie Eis. „Wéra!“ fügte ich mit Hast hinzu. „Was wissen Sie von ihr? Ist die Krisis nahe?“

Er schüttelte den Kopf. „Seit diesem Morgen hat ihre Krankheit eine Wendung zum Bessern genommen. Wir dürfen hoffen, daß Wéra, wenn keine besonderen Zwischenfälle eintreten, gerettet ist.“ Er sagte das wunderbar ruhig, und doch sah ich, daß ein unausgesprochenes Etwas noch wie Bergeslast ihm auf der Seele lag und alle seine Gefühle in Aufruhr erhielt.

Ich drückte ihm meine Freude aus, daß der Zustand seiner Geliebten Hoffnung zu Genesung gäbe. „Aber Sie,“ mußte ich doch sogleich wieder hinzufügen, „was ist Ihnen nur, mein Freund? Haben Sie sich Wéra’s wegen so sehr geängstigt?“ Und dann wiederum erschrak ich, denn wie in fiebernder Hast ergriff er plötzlich meine beiden Hände und preßte sie krampfhaft zusammen, über sein Antlitz fuhr es wie Gewittersturm; aus seinen dunkeln Augen flammte leidenschaftliche Gluth empor und wiederum ein wilder Schmerz.

„Ich habe Unbeschreibliches erlebt,“ rief er aus, „etwas, das ich nie, niemals für möglich gehalten hätte. Helene, Sie müssen mich anhören; ich muß Ihnen Alles mittheilen, wenn dieses Chaos in meiner Seele nicht zum Wahnsinn werden soll. Sind Sie allein?“ setzte er, verstört um sich schauend, hinzu. „Allein! Das ist mehr Glück, als ich zu hoffen wagte.“

(Fortsetzung folgt.)


An der Evangelistenbrücke der Drina.

Der Künstler unserer Illustration, Franz Zverina in Brünn, theilt uns über den Gegenstand derselben eine Schilderung mit, welcher wir das Nachstehende entnehmen. Die Brücke selbst haben wir nördlich von Montenegro im südlichen Theil der Herzegowina zu suchen, die zu dem in diesem Augenblicke so wichtigen Bosnien gehört. In jenen wilden Gebirgen entspringt die Drina, die bekanntlich in ihrem letzten nördlichen Laufe als schiffbarer Fluß die Grenze zwischen Serbien und Bosnien bildet und beim Fort Racsa in die Save mündet.

Erfüllt von den tagtäglichen Schilderungen türkischer Gräuelthaten, so erzählt unser Gewährsmann, überschritt ich nicht ohne Bangen die Montenegriner Grenze bei Rovno und wanderte, meinem unzähmbaren Drange folgend, auch die jenseits der Grenze, in der Herzegowina aufragenden Planinen (Hochebenen)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_716.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)