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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


„Ich verlange Schutz von Ihnen,“ rief der Gemißhandelte, sich aufraffend und zu dem Wachtmeister tretend. „Sie sind mein Zeuge. Nehmen Sie zu Protokoll, daß dieser Mann mich geschlagen und gestoßen hat! Ich verlange es.“

„Sie haben nichts zu verlangen,“ entgegnete der Wachtmeister aufspringend. „Wie können Sie hier so frech auftreten!“

Noch einmal erklärte Kuntze, daß er sich beschweren werde; nun fielen beide Beamte über ihn her, mißhandelten ihn in der brutalsten Weise und überhäuften ihn mit den rohesten Schimpfworten. Ganz erschöpft sank er auf einen Stuhl; er glaubte, diese Schmach nicht überleben zu können.

Der Wachtmeister zeichnete seinen Namen, Stand und Wohnort auf, dann nahm er Bredow’s unwahre Aussage zu Protokoll.

„Nun können Sie gehen,“ sprach der Wachtmeister.

Kuntze war fast ohnmächtig und kaum im Stande, sich zu bewegen. In einem elenden, verzweiflungsvollen Zustande langte er in seiner Wohnung an. Sein Gesicht blutete; sein Kopf war mit Beulen bedeckt. Ermattet sank er nieder, und es währte lange, ehe er die Kraft gewann, seiner Frau Alles zu erzählen. Er hatte öfter von Mißhandlungen durch Polizeibeamte gehört, aber nicht daran geglaubt, weil er nur sehr selten von deren Bestrafung etwas vernommen – jetzt zweifelte er nicht mehr. Noch während der Nacht ließ er einen Arzt holen und die Verletzungen im Gesichte und am Kopfe untersuchen; so elend er sich auch am folgenden Morgen fühlte, fuhr er doch sofort zum Polizeidirector, um die Bestrafung der Schuldigen zu beantragen. Noch trug er ja deutlich die Spuren der Mißhandlung an sich. Er erzählte Alles, wie es sich zugetragen.

Der Polizeidirector hörte ihn mit sichtbaren Zeichen des Zweifels an, richtete einige Fragen an ihn, die er durchaus der Wahrheit gemäß beantwortete, und sprach dann: „Ich kann nicht glauben, daß Beamte im Stande sind, so sehr ihre Pflicht zu vergessen; ich werde übrigens den Vorfall streng untersuchen.“

Kuntze glaubte der Versicherung des Polizeidirectors. Die beiden Schuldigen mußten bestraft werden, denn er besaß das Zeugniß seines Arztes über seine Verletzungen. Außerdem mußte der Richter seinen Worten glauben, denn er war ein durchaus unbescholtener und geachteter Bürger.

Tage vergingen, ohne daß er das Geringste über den Erfolg seiner Beschwerde erfuhr – da erhielt er eine Vorladung zum Untersuchungsrichter. Ruhig folgte er derselben, konnte es sich doch nur um seine Aussage über die ihm widerfahrenen Mißhandlungen handeln. Um so erstaunter war er, als er durch den Untersuchungsrichter erfuhr, daß Meisen und Bredow die Anzeige der versuchten Beamtenbestechung und der Widersetzlichkeit gegen Beamte bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn eingereicht hätten. Er stellte natürlich beides in Abrede, erzählte den wahren Hergang, aber nicht ohne die höchste Erregung und selbst nicht ohne Verwirrung, weil er diese Frechheit der Schuldigen nicht erwartet hatte.

Auch der Untersuchungsrichter schien ihm keinen Glauben zu schenken, denn er ermahnte ihn, die Wahrheit offen einzugestehen, da der Richter in dem offenen Geständnisse einen Milderungsgrund finden werde.

Kuntze begab sich, ehe er heim eilte, zu einem tüchtigen Rechtsanwalte, um dessen Hülfe in Anspruch zu nehmen. Auch ihm erzählte er den ganzen Hergang vollständig der Wahrheit gemäß. Der Advocat fragte ihn, ob er denn keinen einzigen Zeugen habe, ob ihm Niemand auf der Straße an jenem Abende begegnet sei, und als er dies verneinte, nahm das Gesicht des Anwaltes einen immer bedenklicheren Zug an.

„Das ist sehr schlimm,“ sprach er. „Sie haben keinen einzigen Entlastungszeugen, und die beiden Polizeidiener werden vor Gericht ihre Anschuldigung wiederholen und dieselbe auf ihren Diensteid nehmen.“

„Dann begehen sie einen Meineid,“ rief Kuntze.

Der Advocat zuckte mit den Achseln. „Sie haben den Fehler begangen, daß Sie sich mit einer Beschwerde an den Polizeidirector gewandt; dieser wird nachgeforscht haben, und um ihre eigene Schuld zu verbergen, haben die Polizeidiener die Anklage gegen Sie erhoben. Sie sind nicht der Erste, dem es so ergeht, und werden auch nicht der Letzte sein.“

„Leben wir denn in einem Staate, in dem es kein Recht mehr giebt?“ fragte Kuntze. „Ich, der ich unschuldig bin, soll verurtheilt werden? Es ist nicht möglich. Und welche Strafe könnte mich treffen?“

„Es steht Gefängnißstrafe auf dem Vergehen, dessen Sie angeschuldigt sind, doch kann auch auf Geldstrafe erkannt werden, wenn mildernde Umstände vorhanden sind.“

„Gefängniß!“ rief Kuntze. „Um Gotteswillen! Ich würde zweifeln, ob es noch Gerechtigkeit auf Erden giebt.“

„Ich habe oft daran gezweifelt,“ warf der Anwalt ein. „Ich habe gehört, wie Polizeidiener die frechsten Lügen aussagten und auf ihren Diensteid nahmen; ich wußte, daß es Lügen waren, und doch mußte ich schweigen, weil ich keine Beweise gegen sie hatte.“

Kuntze stand regungslos da. „Retten Sie mich – retten Sie mich!“ rief er dann leidenschaftlich.

„Ich werde Alles für Sie thun, was in meinen Kräften steht,“ versicherte der Anwalt. – –

Wochen vergingen. Es waren bange und kummervolle Wochen für Kuntze. Endlich erhielt er die Anklage. – Sehr bald war auch der Tag der Gerichtsverhandlung erschienen. Der Richter, der als Vorsitzender des Gerichtshofes dieselbe leitete, galt für einen ehrlichen Mann, weil er stets nach seiner wirklichen Ueberzeugung das Urtheil sprach, und die Beisitzenden des Gerichtshofes glichen ihm auf ein Haar. Aber er war ein Bureaukrat im strengsten Sinne des Wortes, der jeden Beamten für einen ehrlichen und unfehlbaren Mann und Jeden, der nicht Beamter war, wo möglich für das Gegentheil hielt. Er erachtete es für eine Unmöglichkeit, daß ein Beamter vor Gericht die Unwahrheit aussagen könne; weil er selbst nicht dazu im Stande gewesen wäre, deshalb galt ihm auch die Zeugenaussage eines Beamten mehr als die zehn anderer Zeugen. Dabei ließ er sich in zweifelhaften Fällen von der Ansicht leiten, daß das Ansehen der Beamten unter allen Umständen aufrecht erhalten und unterstützt werden müsse, denn eine Mißachtung der Beamten galt ihm so viel wie Zerfall des Staates und Beginn des Weltunterganges.

In Begleitung seines Vertheidigers erschien Kuntze in dem Gerichtssaale und nahm auf der Anklagebank Platz. Sein Gesicht war bleich, denn schon seit Tagen hatte er nicht eine ruhige Stunde mehr gehabt. Er raffte alle Kräfte zusammen, um ruhig zu bleiben. Das Verhör begann. Er stellte natürlich die ihm zur Last gelegten Vergehen in Abrede und erzählte den Hergang der Wahrheit gemäß. Der Vorsitzende unterbrach ihn mehrere Male in sichtlichem Unwillen.

„Sie thäten besser, wenn Sie Ihre Schuld offen eingeständen,“ bemerkte er endlich. „Denn das Märchen, welches Sie uns vortragen, dürfte doch wenig Glauben finden.“

„Ich habe nichts einzugestehen, da ich die volle Wahrheit gesprochen.“

„Der Wachtmeister hat Ihr Vergehen an dem Abende in Ihrer Gegenwart sofort zu Protokoll genommen – weshalb haben Sie nicht dagegen protestirt?“

„Ich habe es gethan – statt der Antwort erhielt ich einen Schlag ins Gesicht.“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn der Vorsitzende. „Durch solche Behauptungen, denen die Unwahrheit auf der Stirn geschrieben steht, verbessern Sie Ihre Lage nicht.“

In übler Stimmung brach er das Verhör ab. Bredow wurde als erster Belastungszeuge in den Saal gerufen. Mit ruhigem, festem Schritte denn er war früher Unterofficier gewesen – trat er ein. Mit freundlichen Worten forderte der Vorsitzende ihn auf, den Hergang zu erzählen. „Ich brauche Sie wohl nicht darauf aufmerksam zu machen, daß Sie streng bei der Wahrheit zu bleiben haben, denn Sie wissen, daß Sie Ihre Aussage auf Ihren Diensteid zu nehmen haben,“ fügte er hinzu.

„Ja, das weiß ich,“ bestätigte der Zeuge. Sein Gesicht hatte einen unverkennbaren Ausdruck der Rohheit; die glanzlosen Augen traten aus dem Kopfe hervor; das ganze Gesicht war geröthet und aufgedunsen, wie es bei Trinkern zu sein pflegt.

Kuntze’s Vertheidiger erhob sich und stellte den Antrag, daß die beiden Zeugen, welche nach den Aussagen des Angeklagten die Schuldigen seien und deshalb in dieser Angelegenheit unzweifelhaft interessirt wären, ihre Zeugenaussage nicht auf ihren Diensteid zu nehmen hätten, sondern für diesen Fall beeidet würden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 758. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_758.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)