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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

christliche Anschauung betrachtete den Verrath, wie überhaupt die Verurtheilung und Kreuzigung Jesu als ein Werk des Satans, und in den geistlichen Spielen des Mittelalters, den sogenannten Mysterien, fand dieser Gedanke eine sehr drastische Verwirklichung.

Der Darsteller der Judas-Rolle pflegte unter seinem gelben Kittel einen „schwarzen Vogel“ zu verbergen, den er zum Zeichen, daß der Satan bei ihm seinen Einzug hielt, in der Passahmahlscene vor dem Munde herumflattern ließ. Auch übernahm beim Tode des Ischarioth Beelzebub als Abgesandter Lucifer’s das Amt des Henkers. Er zog ihn an einem Stricke hinter sich her zur Leiter hinauf, die schräg an einem auf der Bühne befindlichen Baume lehnte, legte ihm nach einer von ihm gehaltenen kläglichen Rede, in welcher er sich als das Opfer des Geizes und der sieben Todsünden bezeichnete, den Strick um den Hals, setzte sich sodann hinter ihn und riß ihm das Kleid auf, aus welchem im buchstäblichen Sinne die Gedärme herausfielen, denn der Schauspieler trug eine Partie Därme gleichfalls unter seiner Kutte. Hierauf glitten Beide mittelst angebrachter Rollen an dem Seile hinab, das von dem Baume nach einem im Podium befindlichen Loche führte. Dieses Loch repräsentirte die Hölle. Vor dem Eintritte in das dunkle „Höllenthor“ meldete Beelzebub den neuen Ankömmling erst bei Lucifer, dem Commandanten der Hölle, mit den drastischen Worten an:

Ihr Teufel, thut auf der Hölle Thor!
Gottes Verräther Judas ist davor,
Der Jesum seinen Herrn hat verrathen.
Wir haben einen guten schmutzigen Braten;
Seel’ und Leib ist unser eigen.
Er muß jetzt tanzen unsern Reigen,
Wann er hat sich an uns ergeben,
Dieweil er annoch war im Leben.
Lucifer, lieber Herre mein,
Empfah Judas, den Diener dein.

Da steigt Lucifer aus der Tiefe der Hölle herauf, nimmt Judas vom Seile ab, bekennt, daß er längst ein großes Verlangen nach ihm gehegt habe, und verspricht ihm sofort ein Bad aus Schwefel, Pech und Feuer zu bereiten.

Im Oberammergauer Passionsspiele, das ja noch auf den alten Mysterien fußt, erscheint zwar die Figur ihres höllischen Beiwerks entkleidet, aber das kleinliche Motiv des Geizes ist hier noch ängstlich festgehalten, doch hat der Verfasser des Dramas es verstanden, den Zusammenhang zwischen dem kleinen Beweggrund und der großen That dadurch psychologisch wahrscheinlich zu machen, daß er den Gedanken an den Verlust der dreihundert Denare für den Ankauf des Salböls, den die Casse der Jünger, welche Judas verwaltete, erlitt, in diesem zur fixen Idee werden läßt, die ihn ruhelos verfolgt und sein ganzes Denken also verwirrt, daß er, nur darauf bedacht, diesen Verlust zu ersetzen, in den Verrath hinein kommt – er weiß selbst nicht wie. Die Figur schrumpft da freilich zusammen zu der eines ängstlichen pedantischen Cassenbeamten, und nur in der Schilderung der Größe ihrer Verzweiflung wächst sie wieder empor.

Auch Renan, der novellistische Darsteller des Lebens Jesu, befindet sich in wohl nur zufälliger Uebereinstimmung mit dieser Auffassung, wenn er angiebt, Judas habe die Interessen der Casse über das Werk gesetzt, für das sie bestimmt war; der Verwalter habe den Apostel erstickt, und dergleichen.

Die protestantisch-theologische Kritik machte sich gar früh über den ausgestoßenen Jünger her, und es fehlte ihr nicht an den verschiedenartigsten Motiven für das unerklärliche Handeln des dunkeln Charakters. Da, wo sie nicht mit ihm fertig werden konnte, suchte sie wohl auszuführen, daß die ganze Judasgeschichte ein bloßes Werk der Erfindung des spätern Paulinismus sei, der einen der Apostel habe anrüchig machen wollen, um den allerdings mißlungenen Versuch zu machen, ihren eigenen Vertreter in die geheiligte Zwölfzahl der Apostel einzuschmuggeln, eine Ansicht, die durch Strauß ihre Widerlegung findet. Dagegen irren und schwirren die Motive des verrätherischen Handelns unseres Helden im buntesten Wesen durch den wissenschaftlichen und poetischen Luftkreis. Da ist es bald der gereizte Zorn gewesen, bald die empfundene Zurücksetzung gegen die andern Jünger, bald wieder die Unbefriedigtheit der eigenen weltlichen Messiashoffnungen, wie überhaupt die ganze weltliche Sinnes- und Denkungsweise, bald wieder Stolz und verbrecherische Eitelkeit, die den räthselhaften Apostel in seine verhängnißvolle That gestürzt haben sollen, bis endlich eine Auffassung sich Bahn brach, welche die Figur ganz ihrer niedern dunkeln Umgebung enthob. Diese Auffassung ist niedergelegt in Goethe’s Wahrheit und Dichtung. Obwohl er sich selbst zu ihrer Urheberschaft bekennt, ist dieselbe uns doch nicht ganz zweifellos. Sie mag sich auch wohl damals schon in wissenschaftlichen Kreisen das Bürgerrecht erworben haben.

Goethe führt uns das Problem seiner beabsichtigten Ahasver-Dichtung vor und berührt dabei auch das Verhältniß des Judas zu Christus. Danach lebte Judas so gut wie die anderen Jünger der Ueberzeugung, daß Christus sich als Regent und Volkshaupt erklären werde. Um nun das bisherige unüberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur rettenden That zu drängen, habe er, Judas, so erzählt er in der Werkstatt Ahasver’s, die Priesterschaft zu Thätlichkeiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt hätten. Von der Jünger Seite wäre man auch nicht unbewaffnet gewesen und wahrscheinlicher Weise wäre Alles gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie, die Jünger, in den traurigsten Zuständen zurückgelassen hätte. In der durch Ahasver’s bittere Stachelreden noch gesteigerten Verzweiflung schritt denn der schwer Getäuschte zur Selbstentleibung.

Es war hier gewissermaßen der Geist von Hamlet’s Vater heraufbeschworen. Der „dunkle Ehrenmann“ war gerettet, wenn auch nicht moralisch, so doch mindestens ästhetisch. Es war nun nicht mehr der Haß, sondern geradezu die Liebe das treibende Rad seines Handelns.

Andersen in seiner Dichtung „Ahasver“ führte wohl zuerst, die Goethe’sche Judas-Idee dichterisch weiter aus. Aber auch die Dichter der mannigfachen neuen Jesus- und Ischarioth-Dramen stehen auf dieser Basis. In den Dramen tritt neben Judas meist auch noch eine andere, ebenfalls etwas anrüchig gewordene biblische Figur in den Vordergrund. Es ist dies das bekehrte Weltkind Maria Magdalena, deren sich auch sonst die dichtende und bildende Kunst liebend angenommen und sie zum Typus einer bestimmten Species weiblicher Charaktere gemacht hat. Sie erscheint da als die frühere Geliebte des Judas, den sie aus begeisterter Liebe zu dem neuen Messias, dessen Ideen sie ein größeres Verständniß als Jener entgegenträgt, aufgiebt und ihm damit ein neues Motiv zuführt, seinem Herrn und Meister zu grollen.

Auch mit einer bis dato unbekannt gebliebenen Mutter unseres Helden machen wir hier und da Bekanntschaft, welche die geistige Größe ihres Sohnes in mütterlicher Eitelkeit überschätzt, wohl auch eigene Messiashoffnungen auf ihn überträgt und ihm so den unheilvollen Weg mit bahnen hilft, den er betritt. Sie erntet dafür regelmäßig den Fluch des verzweifelnden Sohnes. Um gleichsam zu zeigen, daß es auch noch schlechtere Menschen als ihn giebt, läßt ihn Andersen noch die Freundschaft des Barrabas genießen, der in der Maske eines wüsten, verkommenen und verbrecherischen Don Juan’s auftritt.

Construiren wir uns an der Hand dieser mannigfachen Vorlagen auf möglichst psychologischer Grundlage den modernen Judas-Charakter, so erhalten wir etwa folgendes Bild.

Judas von Karioth, später Ischarioth, das heißt der Mann (Isch) von Karioth, genannt, war ein treuer und warmer Anhänger seines Meisters. Er faßte aber das verheißene Reich Christi noch im concreten altjüdischen Sinne als das Reich David’s auf oder er war doch, wie nicht minder die anderen Jünger, höchstens mit Ausnahme von Johannes, über die eigentlichen und höheren Ziele des Herrn nicht im Klaren. Unter dem doppelten Drucke der Herrschaft der Römer und der eigenen frivolen und grausamen Fürsten nicht minder wohl auch der geistigen Tyrannei einer Priesterkaste, nährte das jüdische Volk in verstärktem Maße seine Hoffnung auf einen befreienden Messias.

Die thatkräftige und energische Natur des Judas – er verband damit einen wesentlich praktischen Sinn, der ihm das Amt eines Schatzmeisters verschafft hatte – verlangte, zumeist wohl nach dieser Richtung hin, wirkliche und greifbare Ziele. Daß diese sich ihm nicht zeigten, das erzeugte mehr und mehr in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_795.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)