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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

menschlich freier, von keiner Clerisei, keiner kirchlichen Satzung beengter Geistesbildung, und wie er in dem soeben beendigten Kriege unter den Vordersten gegen den äußeren Feind mitgefochten haben würde, so würde er jetzt abermals unter den Vordersten gegen den inneren Feind der Freiheit und der Bildung kämpfen. Gegen einen Zusammenhang mit den Absichten der politischen Reaction schützte ihn schon seine klarblickende Vaterlandsliebe – er war einer unserer wärmsten und besten Patrioten.

Als 1870 der Krieg ausgebrochen war und im innersten Gewissen der von starker Leidenschaft emporgerissenen, begeisterungsvoll aufflammenden Nation noch der beklemmende Zweifel bebte, ob es nicht eine blos von der Noth gebotene, sondern auch eine sittlich berechtigte, vor der Gerechtigkeit bestehende That sei, zu der sie das Schwert ergriffe, da war der Verfasser des „Leben Jesu“ unter den Wortführern deutscher Wissenschaft der erste, der das Schweigen brach und aus der Stille seines Studirzimmers jene gewaltigen Manifeste, jene offenen Briefe an Renan in die Welt sandte, die jedes Bedenken lösten und diesem Kriege gaben, was er fordern durfte: das Zeugniß des Gedankens, die Weihe des freien, keinem Befehl und Commando unterworfenen Geistes. Nicht allein wegen der Größe des Moments, den sie begrüßten, sondern auch durch ihren Gehalt und ihre Form gehören die genannten Briefe zu den bedeutsamsten und wirkungsvollsten Aeußerungen, welche die Geschichte unserer nationalen Kämpfe aufzuweisen hat, und wie ein frischer Lorbeer haben sie sich um das ergrauende Haupt des Mannes gelegt, dem blinder Parteigroll auf dieser und jener Seite so gern das Herz abgesprochen hätte und die Wärme des Empfindens für große Zwecke der lebendigen Allgemeinheit.

Als seinen „Meister“ hatte im Beginne des großen Nationalkrieges der berühmte Franzose Renan mit ehrfurchtsvoller Betonung den deutschen Gelehrten angeredet und dabei sicher mit Unzähligen von uns nur die Meisterschaft auf dem Gebiete des Wissens, des forschenden Denkens und seines Ausdrucks im Auge gehabt. Daß an der Ueberlegenheit dieses heldenmüthigen Verstandes, der mit seiner unerbittlichen Schärfe eine Welt des Irrthums und versteinerten Mißbrauchs aus ihren Angeln gehoben, auch ein edles und reiches Gemüthsleben betheiligt war von seltener Tiefe und Innigkeit, das hatte in den Wirren stürmischer Jahrzehnte nur Wenigen selbst unter Denen sich ganz deutlich gemacht, die es aus den kleinen Schriften des Kritikers, – z. B. aus der schönen Grabrede auf seinen Bruder (1863) und aus den Erinnerungen an seine Mutter („geschrieben am Confirmationstage meiner Tochter“) – hätte wisse können. In voller Klarheit stieg vielmehr sein Charakterbild erst vor den Augen der Zeitgenossen auf, als glaubwürdige Stimmen hervorragender Männer von der wunderbaren „Geistes- und Seelengröße“ erzählten, mit welcher der vielgeschmähete „Apostel des Unglaubens“ das Zusammenbrechen seiner Manneskraft, die fürchterlichen Qualen seiner letzten, immerhin langwierigen Krankheit ertrug. Nicht gar lange hatte er in Bezug auf die Rettungslosigkeit seines Zustandes einer Täuschung sich hingegeben. Ueber seinem Schreibtisch im Ludwigsburger Wohnzimmer hingen bezeichnend genug zwei stimmungsvolle Bilder Wächter’s: „der sterbende Socrates“ und „Hiob mit seinen drei Freunden“. Als Strauß mit diesem Dulder der altjüdischen Dichtung sich sagen mußte: „Mein Odem ist schwach, und meine Tage sind abgekürzet; das Grab ist da“ – schloß er mit den Kämpfen seines Daseins ab und las nichts mehr, was über sein letztes Buch geschrieben wurde. Sich selbst getreu, mit voller Ruhe und unbewölkter Heiterkeit des Geistes ging er dem Tode entgegen und legte ungelesen die Bekehrungsbriefe zur Seite, mit welchen die dummdreiste Zudringlichkeit alberner Frömmlinge selbst an diesen Sterbenden sich heranwagte. Jede leidliche Stunde aber widmete der Kranke der Lectüre und geistigen Thätigkeit, der warmen Theilnahme für die Angelegenheiten des Vaterlandes und vor Allem dem liebevollsten mündlichen und schriftlichen Verkehr mit Allen, die seinem Herzen nahe standen und mit Beweisen inniger Liebe und zarter Sorge Licht und Erfrischung in seine verdüsterten und schmerzenreichen Tage brachte. Alle, die ihn besuchten, sprachen es aus, daß sie stets mit einem Eindrucke sittlicher Weihe und Erhebung dieses Krankenzimmer verlassen hatten, von dem auch noch manche bedeutsame Aeußerung, mancher herrliche Brief in die Welt gegangen, in welchem auch unter den schwersten Leiden jene eben so reizenden wie ergreifenden, vom reinsten Liebesathem durchhauchten Gelegenheitsgedichtchen des Vaters an die Kinder geschrieben wurden, mit denen Professor Zeller seinem hier vielfach von uns als Hauptquelle benutzten Werkchen „David Friedrich Strauß“ einen so überaus lieblichen Schmuck verliehen hat.

Weit und breit blieben die gebildeten Kreise nicht gleichgültig bei dieser traurigen Geschickswendung des wirkungsreichen Zeitgenossen, und zu den bemerkeswerthen Symptomen des Zeitumschwunges gehört es jedenfalls, daß unter den zahlreichen Männern und Frauen in der Nähe und Ferne, die den Vorkämpfer der Geistesfreiheit in seinen Leiden nicht ohne erquickende Zeichen der Hochachtung und des herzlichsten Mitgefühls ließen, auch zwei Fürstinnen sich befanden: die deutsche Kronprinzessin Victoria und ihre Schwester, die Prinzessin Alice von Hessen-Darmstadt. Vergebens aber hoffte die Theilnahme auf Genesung: um die Mittagsstunde des 8. Februar 1874 hauchte der Hartgeprüfte sanft und ruhig in den Armen des Sohnes sein Leben aus. Noch in den letzten Tagen vor seinem Tode hatte er Plato’s „Phädon“ in der Ursprache gelesen, und „wenn besuchende Freunde,“ so schreibt Zeller, „jedes Mal mit den Empfindungen von ihm geschieden waren, wie sie uns Platon am Schlusse seines ‚Phädon‘ geschildert hat, so war dies nicht ohne Grund. Denn mit ähnlicher Fassung und Gesinnung, wie dort der alte, wandelte hier ein Weiser und Philosoph unseres Jahrhunderts den letzten Weg.“

Die „Gartenlaube“ hatte im vergangenen Jahre ihren Lesern das Bildniß des lebenden Strauß gezeigt, durch eine freundliche Hand sind wir in den Stand gesetzt, unserem diesmaligen Rückblicke das Bild des Verklärten einzufügen (Nr. 44), von dem alle Zeugen sagten, daß er nach seinem Hinscheiden dagelegen „wie ein Schlummernder, die Züge des Antlitzes von überwältigender Hoheit“. Um dieses bleiche Antlitz, auf das die heiße Thränen trauernder Kinder fielen und dem Verehrung den reichverdienten Lorbeer um die Stirn gewunden, hatte am 10. Februar 1874 eine zahlreiche Schaar erlesener Menschen sich versammelt, die bei der Todeskunde von verschiedenen Seiten herbeigeströmt waren und unter denen wohl kein Einziger sich befand, der nicht mit innerster Ergriffenheit die Größe des Verlustes gefühlt und ermessen hätte. Ohne das übliche Glockengeläute und ohne geistliche Begleitung, wie der Verstorbene es selber angeordnet hatte, aber in langem und feierlichem Zuge führte man ihn über die stillen und schneebedeckten Straßen seiner Vaterstadt hinaus auf den freundlichen Kirchhof. Und wie er es selber gewünscht, so wurden auch an seinem offenen Grabe nur ein paar Lieder gesungen und ein paar kurze Worte des Abschieds gesprochen, dann rollte die winterliche Heimathserde herab auf die erloschenen Reste eines Lebens, dessen Bild fortan die ideal gesinnten Väter unserer Zeit ihren Söhnen hinstellen mögen als ein Muster und Beispiel, da es ein in seinem Leisten gewaltiges, in seinem Streben und seinen Zwecken großes, in seinem Wandel reines und – dem salbungtriefenden Gezeter aller professionirten Heiligkeit zum Trotz – wahrhaft heiliges Leben gewesen ist.

Alb. Fr.





Die mystische Krankheit.
Nebst Winken, wie man ein Wunder daraus macht.
I.

Als Professor Virchow im vergangenen Jahre den Fall Lateau auf der Breslauer Naturforscherversammlung zum Gegenstande einer vielfach angefochtenen Rede machte, sein Urtheil zu den Worten: Betrug oder Wunder! zusammenfaßte und noch weiter dahin ausführte, daß hier ein sehr grober Betrug vorliegen müsse, wenn nicht ein Wunder angenommen werden solle, da ließ der berühmte Forscher außer Betracht, daß es zwischen seinem nach zwei Seiten hin verletzenden Entweder-Oder doch noch einen versöhnlicheren mittleren Ausweg geben könne, nämlich eine durch sehr auffallende Krankheitserscheinungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_804.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)