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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

vom Civil und Militär, mit Brillen und Pince-nez bewaffnet, um die an ihnen vorübergehenden Damen zu mustern und nach Berliner Weise allerlei witzige Bemerkungen über „Stephan’s Blitzmädel“ zu machen. Heute sind die edlen Ritter verschwunden, da sie wohl endlich eingesehen, daß die Liebesmüh’ hier eine verlorene sei.

Wir befinden uns nämlich vor der Telegraphen-Centralstation, und die jungen Damen sind die angestellten Telegraphistinnen des deutschen Reiches. Die erste Anregung zu dieser Neuerung gab der Berliner „Lette-Verein für die Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“, über dessen segensreiche Thätigkeit wir schon ausführlich in der Gartenlaube (1868, Nr. 50) berichtet haben.

Nachdem bereits in der Schweiz und im Großherzogthum Baden Frauen im Post- und Telegraphendienst Verwendung und Anstellung gefunden hatten, richtete der genannte Verein eine Gleiches bezweckende Petition an den Reichstag, welcher der General-Postdirector Stephan auf das Bereitwilligste entgegenkam. Zu diesem Behufe erhalten junge, dazu geeignete Mädchen in einer besonderen Abtheilung des genannten Lette-Hauses in der Königsgrätzer Straße unter der Leitung eines kaiserlichen Ober-Telegraphisten den nöthigen theoretischen und praktischen Unterricht, wenn sie nachweisen, daß sie die erste Classe einer höheren Töchterschule besucht haben oder ein Tentamen im Englischen, Französischen und in der Geographie, so wie der Ausarbeitung eines deutschen Aufsatzes bestehen.

Nach einem dreimonatlichen Cursus in dem Uebungssaale, wo eine genügende Anzahl von Apparaten aufgestellt ist, müssen die zum Staatsdienste tauglichen Candidatinnen zuvor ein praktisches Examen ablegen, bestehend in dem Abtelegraphiren einer deutschen, einer englischen und einer französischen Depesche, sowie in der Aufnahme derselben, wozu sie für jede einzelne Depesche drei Minuten Zeit haben. Die definitive Anstellung erfolgt jedoch erst nach einer längeren Probezeit von drei bis fünf Monaten und nach Anhörung der physikalisch-chemischen Vorträge, welche zweimal in der Woche gehalten werden. Hieran schließt sich ein zweites schriftliches und mündliches Examen über die innere Verwaltung des Telegraphendienstes und über die Zusammensetzung, Wirkung und den Gebrauch der verschiedenen Apparate. Wenn alle diese Prüfungen glücklich überstanden sind, so erhalten die weiblichen Telegraphisten zunächst einen monatlichen Gehalt von zwanzig Thalern, der jedoch mit dem Dienstalter steigt. Vorläufig werden in Berlin ungefähr hundert Damen auf dem Telegraphenamte beschäftigt, darunter Mädchen und Frauen aus den besten Ständen. Berlin selbst liefert kaum die Hälfte des Contingents. Die Mehrzahl kommt von außerhalb. Einige benutzen ihren Dienst nur, um sich die müßige Zeit zu verkürzen, um sich eine kleine Summe für Extravergnügungen zu verschaffen oder einen Nothgroschen für die Zukunft zurückzulegen. Anderen, denen das stille Leben in den kleinen Städten oder auf dem Lande nicht behagt, ist es nur darum zu thun, unter einem schicklichen Vorwande die Residenz mit ihren Genüssen kennen zu lernen. Der größere Theil jedoch sieht sich durch die bittere Noth gezwungen, diesen gebotenen neuen Erwerbszweig zu ergreifen, um sich den nöthigen Lebensunterhalt zu verschaffen.

So findet man eine bedeutende Zahl von Beamten- und Officierstöchtern, deren Väter mit ihrem mäßigen Einkommen eine zahlreiche Familie nicht standesgemäß ernähren oder von ihrer kleinen Pension nicht leben können. Noch trauriger ist das Loos der unglücklichen Mädchen und Frauen, welche ohne jede Stütze allein den schweren Kampf um das Dasein bestehen müssen und ganz verlassen in der Welt dastehen. Der Telegraphendienst gewährt ihnen eine willkommene Zuflucht und schützt sie vor Elend und noch Schlimmerem. Manche dieser Damen hat einst bessere Tage gesehen und im Glanz und Ueberfluß gelebt, bis der plötzliche Tod ihrer Angehörigen oder der Verlust ihres Vermögens sie hierher geführt. Nicht selten wird man unter ihnen durch aristokratische Namen und durch Erscheinungen überrascht, welche einst den vornehmsten Kreisen angehörten. Selbst eine Enkeltochter des berühmten Staatskanzlers, des Fürsten Hardenberg, soll, wie man uns erzählt, augenblicklich – Telegraphistin sein.

Sämmtliche angestellte Damen arbeiten gemeinsam in einem besonderen Saale im zweiten Stock des riesigen Gebäudes und werden hauptsächlich im inneren Verkehr und der Stadttelegraphie beschäftigt, ausnahmsweise jedoch auch zur Aushülfe für den weiteren Dienst in Gesellschaft der Herren verwendet. Sobald sie ihre Mäntel und Hüllen auf dem Corridor abgelegt und in die eigens für sie bestimmten Schränkchen gehängt, treten sie in den Saal, wo bereits die bisher beschäftigten Colleginnen auf ihre Ablösung sehnsüchtig harren, da sie von sieben Uhr Morgens bis ein Uhr Mittags ununterbrochen im Dienste sind. Rasch übersieht die Neuangekommene die vorliegenden Depeschen und ordnet sie nach der Zeit der Annahme. Ohne Zögern geht sie an die Arbeit, welche ihre ganze Kraft in Anspruch nimmt.

Es giebt einzelne Apparate, welche in einem Nachmittag bis zweihundert Depeschen befördern. Da muß man aufpassen und rührig sein, um eine solche Aufgabe zur Zufriedenheit der Vorgesetzten zu lösen. In fieberhafter Aufregung fliegen die Finger; fünf Botschaften kommen; fünf gehen, schneller, immer schneller. An neuer Zufuhr fehlt es nicht, und die freundlichen Grüße der weniger beschäftigten Nachbarinnen können nur durch ein stummes Kopfnicken beantwortet werden, da keine Zeit zum Sprechen übrig bleibt. Endlich eine Pause; die Arbeit ging gut und schnell, ohne Störung von statten. Nun kann man sich ein wenig ausruhn und per Draht die Grüße einer Collegin erwidern. So wunderbar es klingen mag, so erkennen sich an der bloßen Schrift, welche doch nur aus Strichen und Punkten besteht, die Telegraphistinnen unter einander immer wieder, obgleich die Apparate jeden Tag gewechselt und anders vertheilt werden.

Allerdings ist jede derartige Privat-Correspondenz streng verboten, aber die Töchter Eva’s lieben auch hier, dem Gesetz eine Nase zu drehen – höchstens riskiren sie eine Ordnungsstrafe, einen kleinen Abzug von ihrem Gehalt. Eine Telegraphistin erhält nie einen mündlichen Verweis wegen eines begangenen Fehlers; dagegen muß sie im Fall einer Uebertretung ihren Namen in ein besonderes schwarzes Buch, in das sogenannte „Album“ eintragen und durch ihre Unterschrift sich zu dem angegebenen Fehler bekennen. Nach einigen Tagen erhält sie eine Einladung auf das Revisionsbureau, wo sie aufgefordert wird unter die Worte: „Unterzeichnete hat diesen oder jenen Fehler gemacht und sich deshalb einen Verweis zugezogen“ ihren Namen zu setzen, womit die Sache abgethan ist. Im Ganzen sind Verweise nicht häufig, und bis jetzt ist erst eine einzige Telegraphistin und auch diese nicht wegen eines groben Vergehens, sondern wegen Schwäche und Unfähigkeit entlassen worden.

Selbstverständlich benutzen die Damen jede freie Pause, um sich mit einander zu unterhalten. An dem einen Tische wird ernst und eifrig über Politik gesprochen und gestritten; an dem zweiten Kindererziehung und Wirthschaft, an dem dritten die Toilettenfrage lebhaft abgehandelt. Alle neueren Erscheinungen der Tagesliteratur gehen frei von Hand zu Hand, und auch an eigenen poetischen Versuchen fehlt es nicht, wie folgende kleine Probe einer dichterischen Telegraphistin zeigt:

Die Telegraphen-Aspirantin
Ist ein als fähig erkanntes,
In den Uebungssaal des Lette-Vereins gesandtes,
Vom Herrn Ober-Telegraphisten commandirtes,
Mitunter etwas affectirtes,
Anfangs beim Lernen sich quälendes,
Striche und Punkte zählendes,
Endlich Examen bestehendes,
Nach der Station abgehendes,
Dort pünktlich zu sein geruhendes,
In der Garderobe viel Unsinn thuendes,
Am Apparate sitzendes,
Bei zweiundzwanzig Grad schwitzendes,
Ueber schlechte Schrift schwälendes,
Sich per Draht gern was erzählendes,
Hin und wieder falsch aufnehmendes,
Dann zur Strafe sich bequemendes,
An den Vorträgen sich erbauendes,
Blitzableiter anschauendes,
Betriebsreglement einbläuendes,
Schriftliche Arbeiten scheuendes,
Endlich beim Examen sechs Bogen voll schmierendes,
Dadurch zur Gehülfin avancirendes,
   Geplagtes Individuum.“

Die Behandlung der Damen von Seiten der männlichen Collegen ist meistens eine durchaus freundliche und rücksichtsvolle.

Sollte jedoch einmal dieser oder jener Beamte die dem zarten Geschlecht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_875.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)