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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Aschkasten, todt und halb geschmort. Der Aschkasten mochte ihn wohl im Sprunge gefangen haben.[1] Der hatte es eilig gehabt, gebraten zu werden.“ Lautes Gelächter folgte der Erzählung des jungen Führers.

„Da lachen sie, die dummen Bengel, über das arme Vieh,“ murrte Zimmermann, die Gläser frisch füllend, dazwischen, „weil sie nicht wissen, wie verdammt es Einem so unter einem Asch- und Feuerkasten zu Muthe ist.“

„Und wissen Sie denn das, Vater Zimmermann?“ riefen mehrere Stimmen im Tone des starken Zweifels.“

„Ich weiß Alles, das wißt Ihr Burschen recht gut, und habe Alles durchgemacht, was zwischen der Unterkante der Schienen und der Oberkante eines Locomotivschornsteins vorgehen kann,“ erwiderte Zimmermann.

„Aber im Aschkasten haben Sie doch nicht gesteckt?“ lachte die übermüthige Gesellschaft.

„Nicht ganz,“ erwiderte der alte Führer sehr ernst, „aber darunter, und stückweis auch beinahe darin. Aber ich sage Euch, daß ich wohl dabei gewesen bin, wie aus einem stolzen Zuge von prächtigen Wagen, voll lustiger Menschen auf einen Ruck – ehe ihr die Hand nach der Pfeife erheben, oder eine Bremse anziehen könntet – ein Haufen von buntem Scheitholze, Schrauben- und Achsen- und Räderbruchstücken wurde, unter dem Stöhnen und Hülfegeschrei hervordrang und den verzweifelnde Menschen umjammerten, und wie Locomotiven, wie junge Katzen über das Dach, über die Böschung hinab sprangen und sich überkugelten, ein-, zwei-, dreimal, Räder oben, Schornstein unten, und Alles Dampf, Trümmer, Feuer, Zischen und Geschrei war – daß mir aber nie das Herz in fünfunddreißig Jahren Eisenbahndienst so still gestanden hat, wie unter dem Aschkasten –“

„Erzählen, Vater Zimmermann! Erzählen!“ riefen die rauhen Stimmen im Kreise, denen man es anhörte, daß sie gewöhnt sind, über das Klirren, Rasseln und Poltern der Maschine hinaus zu sprechen.

„Na, ich will’s wohl thun,“ erwiderte dieser, indem er langsam seinen Tabaksbeutel aufschnürte und seine kurze Pfeife zu stopfen begann, „obwohl ich nicht gern von der Geschichte spreche. Es dreht sich mir immer noch was hier unter der dritten Rippe herum, wenn ich daran denke.

Seht, Jungens, die Hände, die diesen Beutel damals stickten, wären beinahe dabei zu Wittwenhänden geworden, und mein Karl und mein Julchen wären gar nicht auf der Welt, wenn Ihr mich damals schon wie jetzt den ‚dicken Franz‘ hättet heißen dürfen.“

„Warum denn gerade deshalb, Vater Zimmermann?“ frug es wieder im Kreise.

„Nun, so brennt Euch denn in Gottes Namen wieder frische von Eueren verdammten modischen beizenden Glimmstengeln an – sie passen zu Euch Puppen in den Glaskästen, wie die kurze Pfeife zu uns Kraftkerlen unter Gottes freiem Himmel paßte – und gebt die Gläser her! Dann aber haltet die Mäuler, bis ich fertig bin! –

Es war Sylvesterabend wie heute, Anno 1845, vor vollen, ausgeschlagenen dreißig Jahren, und ein Hundewetter, Schneetreiben und Regenschlacker durcheinander. Ich lag als blutjunger Führer auf dem Hauptbahnhofe in der Residenz in Station und hatte vorm Jahre geheirathet. Ihr wißt, die Station ist ein schändlicher Platz für den Dienst; mag der Sturm herblasen wo er will, über den Platz, der, wie ein Kuchenbrett auf dem Tische, in der Ebene liegt, fegt er immer hin. Nach der Stadt hinein geht’s durch einen kleinen Einschnitt mit zwei Gleisen, von denen das eine immer in der ersten Stunde jedes Schneetreibens zuweht. Gleich wenn man durch den Einschnitt durch war, im dritten Hause der Gärtnergasse, hinter der alten Oelmühle, die wir so oft verwünschten, weil wir immer beim Vorbeifahren den Dampf absperren mußten, um nicht durch die Funken aus dem Schornsteine ihr Schindeldach anzuzünden, wohnte ich mit meiner Louise und dem eben geborenen Franz, der jetzt Werkführer bei Rüdrich’s ist.

Also am Sylvesterabend 1845 kam ich mit einem schweren Güterzuge von Griesthal herauf nach der Residenzstation und hatte ganze vierzehn Stunden bei sechs Grad Kälte und Sturm auf der Maschine gestanden. Ich war steifgefroren wie ein Bock und freute mich auf den Sylvesterpunsch wie ein Affe. Es dunkelte schon, als ich einfuhr, und durch das Schneegeflimmer hindurch sah die Station mit ihren hundert und aber hundert Lichtern an Perrons und Weichen aus wie eine große Weihnachtsbescheerung. Schlechte Bescheerung für mich! – Da war von den Weihnachtsfeiertagen her eine wahre Wagenburg von so ungefähr fünfhundert Wagen auf der Station zusammengefahren – und die mußten rangirt werden, damit die Sachen nach dem Neujahrsfeste gleich fort konnten.

Und kaum steige ich von der Maschine im Heizhause, so kommt der Schirrmeister an mich heran und sagt: ‚Zimmermann, Hauser ist krank geworden. Ihr müßt für ihn die dritte Rangirmaschine übernehmen.‘ ‚Schockschwerenoth!‘ sage ich, ‚aber in Gottes Namen, wenn’s nur nicht bis Mitternacht dauert, Herr Schirrmeister – da muß ich zu Hause sein, sonst giebt’s nächstes Jahr ein Unglück.‘

‚Narrenspossen,‘ sagt der Schirrmeister, ‚haltet Euch nur d’ran, daß Ihr fertig werdet!‘ und hinaus ist er wieder in den Schneewirbel.

Mir war die Sache fataler, als sie werth war; ich schob das Gruseln, das mir über die Haut lief, auf das unheimliche Wetter, das mich anschnaubte, als ich mit der Maschine hinauskam. Die ganze Luft war voll Schneestaub und Kältenebel, und wenn die weißen Gespenster im Sturme quer über die Maschine jagten, sah ich den Schornstein kaum.

Von den Lichtsignalen erwischte man nur dann und wann einen rothen, weißen oder grünen Blick, von den Horn- und Pfeifensignalen hörte man, bei dem Heulen des Windes in den Wagen und Wagenrädern und dem Singen in den Telegraphendrähten und dem Rollen der Wagen und dem Maschinenpfeifen nur gerade so viel, daß man eben gewahr wurde, daß man sie nicht verstanden hatte. Von den Zurufen der Rangirer nahm man schier nichts wahr, als daß sie schrieen.

Dazu wurden ein paar hundert Wagen von drei Maschinen gleichzeitig in allen Richtungen verschoben, überall prallten sie wie große Schatten aus Nebel und Schneegestöber heraus und verschwanden gleich wieder darin, und Alles war dumpf vom dicken Schnee; man hörte sie nicht rollen, nicht kommen, nicht gehen. Die armen Weichensteller und Rangirer sprangen, naß bis auf die Haut, im knietiefen Schnee zwischen den rollenden Wagen hin und her. Ihr wißt ja, wie eine Rangirstation in einer Winternacht aussieht! Der liebe Gott thut dann das Beste dazu, daß wir nicht Alle dabei zu Brei gefahren werden, und ich habe mich mein Lebtag immer gewundert, wenn ich am andern Morgen nicht gehört habe, Der oder Jener sei auf dem Platze geblieben. Und wenn was geschieht, holen die gestrengen Herren am grünen Tische, in der warmen Stube, das Reglement aus der Tasche. Nun freilich, es kann nicht anders sein. Wenn sie’s aber nur ein einziges Mal in ihrem Leben draußen mit ansehen wollten! –

In jener Nacht also war es gar schlimm, und der Sylvesterpunsch mochte überdies den Leuten im Voraus im Kopfe spuken, denn das Rangiren ging in einem Tempo, als commandire es der Satan. Die Wagen flogen nur so hin und her, und die Lichter gingen vorbei wie Blitze, und man hörte überall das Dröhnen und Klingen der zusammenstoßenden Puffer, und die Leute krochen unter und zwischen den Wagen umher, als wären die Räder Pfefferkuchen und die Puffer Daunenbetten. Da war vor Allem ein kleiner, wüster Schirrmeistergehülfe – ich mochte den Kerl nicht leiden, denn er war mir einmal bei einem Mädchen sehr in die Quere gekommen – aber ich mußte staunen, wie ich überall seine Signallaternen: rundgeschwungen, quergeschwungen, kreuzweise, oben, unten, hinten und vorn sah, und seine grelle Stimme durch den Sturm hindurch hörte.

Und seht, den Mann hatte ich eben angerufen, als ich ihn wieder zwischen zwei Puffern durchschlüpfen sah. Er solle nicht

  1. Unter dem Feuerroste jeder Locomotive befindet sich in der ganzen Breite desselben ein Kasten von starkem Eisenbleche, dessen Hauptzweck es ist, zu verhindern, daß die häufig durch den Rost fallenden glühenden Kohlen und Schlacken nicht in das Freie gelangen und Gefahren erzeugen. Der Kasten ist meist nach vorn und hinten offen, und die beiden Oeffnungen sind durch Klappen verschließbar, wenn es gilt, das Feuer zu dämpfen oder vor dem Eindringen des Schnees von unten beim Durchfahren von Wehen zu schützen. Diese „Aschkasten“ sind diejenigen Theile des Fahrparkes der Eisenbahnen, welche, fast in der ganzen Breite des Geleises, am tiefsten nach der Schienenoberfläche hinabreichen. Dies ist zum Verständnisse des nachfolgenden im Sinne zu behalten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_009.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)