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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Wollen Sie nicht einmal bei uns speisen, liebe Tante? Sie haben mir’s längst versprochen.“

„Einmal, wenn ich von ‚Ihm‘ fortkommen kann. Ich schicke Dir lieber eins von den Mädchen; sie nähen sich die Augen aus – brave Kinder. Gott segne sie!“

„Und wie fühlen Sie sich, Tante Guttraud?“

„Ich? Gott sei Dank, daß es ‚Ihm‘ nicht schlechter geht; gelobt sei der Arzt der Kranken und gesegnet, wer die Kranken labt und die Wankenden stützt!“ und die magere Hand erhob sich über das Haupt unserer Mutter, die vor dem tiefen thränenfeuchten Blick der Greisin beschämt die Augen niederschlug.

Es klopft an die Thür; die Mutter erhebt sich; die Aepfel sind verzehrt; wir athmen auf, als wir durch das enge Thor in das enge Gäßchen treten. „Kinder,“ sagt die Mutter, „Tante Guttraud ist eine Heilige in Israel.“

Wir glaubten ihr. Verehrt man doch die Heiligen, ohne nach dem Grunde zu fragen. Kinder verlangen nicht nach Beweisen. Die Großtante stand unseren kindischen Interessen fern; sie ragte nur um eines Fischkopfs Länge und eines Apfels Schwere in unser Leben hinein. Und diese verhältnißmäßige Verkürzung war bald vergessen, so oft wir Abends, wenn nicht an dem durch seine Gräten gefährlichen Fisch, so doch an der Sauce „à la Mutter“ gehörig betheiligt wurden.




Wohl zwanzig Jahre später kehrte ich von der Universität in meine Heimath zurück. Wie fand ich Alles verändert und mir entfremdet! Der Tod hatte, von seiner eifrigsten Dienerin Cholera unterstützt, seine ergiebige Ernte eingeheimst. Mein geliebter Vater lag draußen, am „guten Ort“; für die vielen Andern, deren Hinscheiden mir gelegentlich berichtet wurde, hatte mein Herz kaum eine Erinnerung bewahrt. Das Vaterhaus war einsam geworden; die Brüder waren in der Fremde zerstreut, die Schwester war verheirathet; an verwaister Stätte schaltete die Mutter nicht „liebeleer“; denn ihr Herz umfaßte die ganze Menschheit; sie war der Brennpunkt für die zerstreuten Strahlen der Familie, die Vorsehung der Bedrückten und Nothleidenden der ganzen Gemeinde geworden. Es war ein schweres Wiedersehen. Wir umarmten uns schweigend. Jedes schonte die Wunden des Andern. Das Schweigen machte die gedrückte Stimmung in dem öden Hause nur schwüler und erstickender.

„Gehen wir hinaus zu den Unsern!“ sagte die Mutter. Ich wollte ihre Begleitung zurückweisen – sie lächelte.

„Das ist mein gewöhnlicher Spaziergang,“ sagte sie, „der ‚gute Ort‘ ist mein Garten, mein Persepolis.“

Eine Stunde Weges von der Stadt liegt der jüdische Friedhof auf einem Hügel am Saume eines Eichenwäldchens. Wenn man nicht durch das schmutzige Dorf fahren will, nimmt man den Weg durch den „Forst“, eine Wiese mit alten Pappeln umsäumt. Die grüne Wiese war mit unzähligen Herbstzeitlosen durchsät; zur Pforte des Friedhofes hatte die Mutter den Schlüssel, wie zu ihrem Garten. Wir wandelten unter Bekannten; von allen Grabsteinen grüßten vertraute Namen. Wir hatten uns am Grabe meines Vaters ausgeweint und schritten erleichterten Herzens durch die Gräberreihen, hie und da ein Steinchen auflesend, um es als Denkzeichen auf die Grabstätte eines Verwandten, eines Freundes zu legen. Bei einem liegenden Stein, dessen hebräische Inschrift mir schwer zu entziffern fiel, blieb die Mutter stehen, und gleich als ob sie mir einen theuren Bekannten vorstellen wollte, sagte sie mit gerührter Stimme: „Tante Guttraud!“

Die Erinnerung aus meiner Kindheit tauchte plötzlich vor mir auf, das Bild der Greisin in ihrem geheimnißvollen Schleier. Gegenüber dem unauflöslichen Räthsel des Todes empfand mein Herz zum ersten Mal den Drang, nach dem Grund der mysteriösen Verehrung dieser „Heiligen in Israel“ zu forschen. Ich setzte mich am Rand ihres Grabsteins nieder und zog die Mutter in den Schatten einer Trauerweide, die sie selbst dort gepflanzt hatte. „Was ist’s mit Tante Guttraud und Deiner frommen Verehrung für sie bis über das Gras hinaus? Wie groß muß dieses Weib gewesen sein, wenn eine Seele wie die Deinige sich in Ehrfurcht vor ihr verneigt!“

Fast erschreckt, wehrte die Mutter diesen Vergleich von sich ab. „Wie kannst Du mich, Kind, mit dieser Märtyrin vergleichen! Mir hat Gottes Gnade in meinen Kindern der Freuden so seltene gegeben, und mein Schmerz war immer nur das allgemeine Menschenloos. Sie war die heiligste Dulderin, die Heldin der Demuth, die Märtyrin der Treue. Ein Opfer, das die Liebe bringt, begreifen wir leicht, weil wir selbst uns dessen fähig halten; Tante Guttraud steht einzig da; sie hat sich selbst ihrer Treue geopfert. Ich habe Euch Kindern nie von ihren Schicksalen erzählt, weil ihr Heiligenschein einen Schandfleck unserer Familie deckt; ein Kindergemüth soll man nicht trüben durch die Schilderung menschlicher Irrthümer und Verbrechen. Aber Du kennst jetzt das Leben mit seinem Licht und seinen Schatten. Jetzt kann ich Dir ruhig ihre Geschichte erzählen.

Tante Guttraud war eine ältere Schwester meiner Mutter, Deiner verklärten Großmutter – Segen ihrem Angedenken! Sie war in einem Landstädtchen unweit der Hauptstadt verheirathet, und wir hörten wenig von ihr, bis ihr Mann starb und sie mit ihren beiden Töchtern herüberzog. Sie besaß so viel, wie sie zum bescheidenen Leben brauchte; sie war eine geübte Perlenstrickerin, und die Mädchen nähten für andere Leute. Trotz ihrer vierzig Jahre war sie noch eine schöne Frau; ihr vornehmer Gang ist mir noch immer im Gedächtniß geblieben.

Das war in den französischen Zeiten, als König Jeròme bei uns Hof hielt und aus Frankreich und Elsaß eine Menge abenteuerlicher Leute sich bei uns ansiedelten. Da war Alles ‚lustick‘ und schwindelhaft, und in der Neustadt sah man Kaufläden entstehen, so groß und prächtig wie auf der Frankfurter Zeil. Zwei Brüder, elsasser Juden, hatten das schönste Geschäft aufgemacht, und es war eine Neuigkeit, die Aufsehen in der Gemeinde erregte, als der ältere von ihnen sich mit Tante Guttraud verlobte. Es war ihm wohl hauptsächlich darum zu thun, in unsere Familie zu kommen, die nicht zu den reichsten, aber zu den geehrtesten der ganzen Gemeinde zählte. Auch war Tante Guttraud mit der weißen Hochzeitshaube wirklich eine schöne fürstliche Frau. Ich tanzte, als Mädchen noch, auf der Hochzeit, die im Stadtbausaal gehalten wurde; meine Mutter – gesegneten Andenkens – kam traurig und kopfschüttelnd von der Sude (Hochzeitsmahl) nach Haus; das Schwindelhafte des Festes hatte sie verstimmt, das Wesen des Bräutigams sie abgestoßen. ‚Bei dem hat die Windel nicht gerauscht,‘ sagte sie, um den Emporkömmling zu bezeichnen. Und sie hatte leider nur zu recht gesehen. Die Ehe der Tante war keine glückliche. Ihr zartes vornehmes Herz litt unter seiner Rohheit, ja man sagte, – obwohl sie selbst es beharrlich leugnete – daß er sie thatsächlich mißhandle. Die Stieftöchter trösteten sich mit ihren besseren Kleidern und mit dem Bewußtsein, nicht mehr für andere Leute arbeiten zu müssen; die Tante blieb einfach, wie zuvor, wir aber zogen uns mehr und mehr von ihrem Hause zurück; ein tiefer Widerwille ließ uns den neuen Onkel stets als einen Fremden betrachten.

Die ‚französische Zeit‘ ging vorüber; der Kurfürst[WS 1] wurde von den drei Alliirten wieder eingesetzt; ich war unter den ‚weißen Mädchen‘, die ihn am Weserthore empfingen. Aber die Zeiten waren, wie man damals allgemein sagte, nur schlechter geworden. Der westphälische Hof hatte viel Geld unter die Leute gebracht; mit dem Luxus hörte der Wohlstand auf; die deutsche Tugend coquettirte mit nüchterner Einfachheit; die großen Kaufleute sperrten Einer nach dem Andern ihre Läden zu. So ging es auch den beiden Elsassern; der Eine ging durch, der Andere verarmte immer mehr, und mit dem Verfalle seines Reichthums wuchs nur seine Rohheit, aber mit ihr die Demuth der frommen Dulderin. Sie strickte wieder Rosenguirlanden aus Perlen in grüne Geldbeutelchen, die sie selbst zum Verkaufe trug, und die Mädchen errichteten eine Nähschule und verfertigten wieder Hemden für andere Leute. Doch wenn Einer der Anverwandten der armen Tante eine Unterstützung bot, so wies sie diese stets entschieden und vornehm zurück: ‚Er sorge schon hinlänglich für die Seinen.‘

Ich war seit einem Jahre verheirathet, und Dein guter Vater hätte mir gern gestattet, etwas für die arme Tante zu thun. Wenn ‚Er‘ abwesend war, was jetzt halbe Wochen lang vorkam, besuchte ich die arme Tante, deren volles Gesicht der innere Gram abzehrte und bleichte, aber nie kam ein Wort der Klage über ihre Lippen. Nur heimlich durfte ich in der Küche die kleinen Vorräthe von Kaffee und Zucker, die ich mitbrachte, den Töchtern zustecken, in deren warmen Unterröcken ich die Kleider der Mutter erkannte; deshalb trug sie wohl im

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kürfürst
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_029.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)