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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

nicht sehr großes, aber schöngeschnittenes klares Auge mit einem kühlen Blick; er harmonirte mit der unbefangenen Sicherheit ihres ganzen Wesens. Wie ruhig und praktisch traf sie die Anstalten zur Aufnahme der Kranken! Das Sopha wurde als Bett eingerichtet, der plumpe mit Leder bezogene Lehnstuhl des Schloßmüllers aus der Fensterecke tiefer in das Zimmer gerückt, damit kein Zuglüftchen die Patientin streife; sie holte einen kleinen Tisch aus dem Alkoven und die weißgescheuerte Fußbank unter dem hochbeinigen Kanapee hervor – das geschah so unbefangen und selbstverständlich, als sei sie nie von der Mühle fortgewesen. Sie war aber auch so vertieft in ihre augenblickliche Aufgabe, daß man meinen konnte, sie habe die Anwesenheit des Mannes dort im südlichen Eckfenster ganz vergessen. Nur als sie die obere Schublade der Kommode aufzog und ein weißes Tuch mit roth eingewirkter Kante herausnahm, um es über das Tischchen vor dem Lehnstuhle zu breiten, wandte sie das Gesicht nach ihm und sagte: „Es ist etwas Schönes um diese altbürgerliche Ordnung – Alles steht und liegt am altgewohntem Orte. So ist es gewesen, ehe ich geboren wurde, und während meiner sechsjährigen Abwesenheit sind die Einrichtungsgesetze unverrückt geblieben – man ist sofort wieder heimisch.“ Sie zeigte auf den Spiegel über der Kommode. „Da hinter dem Rahmen guckt die Ecke des Hauskalenders, in den der Großpapa seine Notizen schrieb, und darüber steckt noch die Ruthe mit dem verblichenen Bande, die schon der Schrecken meiner Mutter gewesen ist.“

„Auch der Ihrige?“

„Nein, mich kleines Ding beachtete der Großpapa nicht genug, um sich mit meiner Besserung zu befassen.“ Sie sagte das durchaus nicht bitter; eher mit einer Art lächelnder Resignation. Dabei wischte sie den leichten Staubanhauch, der sich während Suse’s Kranksein abgelagert hatte, von den Möbeln und schloß auch die anderen Fenster. „Hier auf dem Steinsims müssen nothwendig Blumen stehen; ihr Duft soll meine arme Suse erquicken. Ich werde Schwager Moritz um einige Hyacinthen- und Veilchentöpfe aus dem Wintergarten bitten –“

„Da werden Sie sich an die Frau Präsidentin Urach wenden müssen; sie hat einzig und allein über den Wintergarten zu verfügen; er gehört zu ihrer Wohnung.“

Das junge Mädchen sah ihn groß an. „So streng ist die Etiquette drüben? Zu Papas Lebzeiten war der Wintergarten Gemeingut der Familie.“ – Sie zuckte die Achseln. – „Damals freilich war die vornehme Schwiegermutter meines Vaters nur dann und wann Gast in der Villa.“ Ihre klangreiche Stimme verschärfte sich ein wenig bei diesen Worten, aber sie warf gleich darauf den Kopf in den Nacken, als könne sie damit eine augenblickliche unangenehme Empfindung abschütteln, und setzte heiter lächelnd hinzu: „Nun, dann um so besser, daß ich zuerst in die Mühle ging, um mich zu acclimatisiren!“

Er verließ die Fensternische und trat zu ihr. „Ob man Ihnen aber drüben nicht sehr verargen wird, daß Sie sich nicht sogleich in den Schutz der Familie begeben haben?“ fragte er mit ernstem Nachdrucke, aber auch mit jenem Antheile, der zart einen Rath, einen Wink zu geben versucht, ohne zudringlich zu werden.

„Dazu hat man doch wohl nicht das Recht,“ versetzte sie rasch und lebhaft, während der leuchtende Carmin auf ihren Wangen sich verdunkelte. Dieses ‚Drüben‘ ist für mich gleichbedeutend mit der Fremde, in der ich den Familienschutz, wie Sie ihn nennen – nämlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit – nicht voraussetzen kann, auch nicht bei den Schwestern. Wir kennen uns gar nicht näher; nicht einmal das dürftige Band eines kleinen Briefwechsels existirt zwischen uns – ich habe nur mit Moritz correspondirt. Als Papa noch lebte, wurde Henriette bei ihrer Großmama erzogen. Wir sahen uns äußerst selten und auch dann nur unter der Aufsicht der Frau Präsidentin. Meine Schwester, die Commerzienrath Römer, wohnte in der Stadt und starb auch sehr frühe. Und Flora? Sie war sehr schön und sehr gescheidt; sie war eine hochgefeierte junge Dame und machte bereits die Honneurs in unserem Hause, als ich noch tief in den Kinderschuhen steckte. Flora muß großartig beanlagt gewesen sein, weil man sich stets so namenlos bedrückt und eingeschüchtert in ihrer Nähe fühlte. Ich habe nie gewagt, sie anzureden, oder auch nur ihre wunderschönen Hände zu berühren, und noch heute fühle ich, daß es sehr unbescheiden von mir sein würde, wollte ich den Umgangston zwischen ihr und mir beanspruchen, wie er sonst zwischen Schwestern üblich ist.“

Sie unterbrach sich und sah ihm erwartungsvoll in das Gesicht, aber sein weggewendeter Blick schweifte über die Gegend draußen. Er ermuthigte sie mit keiner Silbe – hatte er doch auch um das seltene Mädchen dienen müssen, wie Jakob um die Rahel. Möglicher Weise war er nicht einmal duldsam gegen die Schwesterliebe in dem Herzen, das sich ihm endlich zugeneigt. … Bei aller Milde und sanften Schlichtheit, die er wohl in Folge seines ärztlichen Berufes äußerlich angenommen, sah er doch aus, als könne er auch sehr ernstlich und entschieden auf seinem Rechte bestehen.

„Wie die Sachen stehen – die Villa ist ja nicht mehr mein Vaterhaus – kann ich dort nur als Gast, als Besuch gelten, wie jeder Andere auch,“ hob sie nach einer augenblicklichen Pause wieder an. „Hier in der Mühle stehe ich auf meinem eigenen Grund und Boden; da ist Heimathluft und Heimgefühl, und das alte Schieferdach droben und Franz und Suse werden mich und meine unmündigen achtzehn Jahre wohl ebenso treu beschirmen, wie es die Villa mit ihrer strengen Etiquette nur immer vermag.“ Ein muthwilliges Lächeln schwebte um ihren Mund. „Uebrigens wird man über diesen ‚Formfehler‘ rascher hinweggehen, als Sie denken, Herr Doctor – man kann es von ‚der Müllermaus‘ nicht besser erwarten.“

Der Schmeichelname, mit welchem der Papa sie einst genannt, konnte nun allerdings nicht mehr gelten: Huschen und Schlüpfen und unversehens in einem Verstecke verschwinden – dieses Gesammtbild von zarter Gliedergeschmeidigkeit und furchtsamer Seele paßte nicht zu dem Mädchen, das der Welt den fleckenlos weißen Schild der Stirn so ruhig zukehrte, das seine kraftvollen, plastisch ausgeprägten Glieder bei aller jugendfrischen Regsamkeit dennoch mit einer Art von stiller Würde beherrschte.

Allmählich kam eine behagliche Wärme vom Ofen her; Käthe zog ein Flacon aus der Tasche und goß einige Tropfen Eau de Cologne auf die heiße Eisenplatte; ein lieblicher, luftreinigender Duft verbreitete sich. „Suse wird ganz feierlich zu Muthe sein, wenn sie herüber kommt,“ sagte sie heiter und ließ ihre Augen noch einmal musternd durch die Stube gleiten; es war Alles in Ordnung; nur die Alkoventhür stand noch offen, und durch den breiten Spalt sah man gerade auf die bunten Nelkensträuße der Bettstelle, die drinnen in der Nähe des Fensters stand. Jetzt erst fiel der Blick des jungen Mädchens auf die plumpen wohlbekannten Blumengebilde, die einst das Entzücken ihrer Kinderseele gewesen waren – die ganze Rosenfrische wich plötzlich von ihren Wangen, selbst ihr rother Mund war blaß geworden.

„Dort ist mein Großpapa gestorben,“ flüsterte sie ergriffen.

Doctor Bruck schüttelte den Kopf und zeigte schweigend nach dem südlichen Eckfenster.

„Sie waren bei ihm?“ fragte sie hastig und trat ihm näher.

„Ja.“

„Er ist so plötzlich gestorben, und Moritz hat mir den Trauerfall in so wenig eingehender Weise angezeigt, daß ich nicht einmal weiß, was die Ursache seines Todes gewesen ist.“

Der Doctor stand so, daß sie nur sein Profil sehen konnte; er war sehr bärtig um Kinn und Lippen; dennoch konnte sie bemerken, wie sich diese Lippen fest aneinander legten, als werde es ihnen schwer, zu antworten. Nach einem augenblicklichen Schweigen wandte er ihr langsam und voll das Gesicht zu und sah sie ernst an. „Man wird Ihnen sagen, er sei an meiner Ungeschicklichkeit im Operiren gestorben,“ sagte er mit einer Stimme, der die innere Bewegung fast allen Klang nahm.

Das junge Mädchen fuhr vor Schrecken und Bestürzung zurück; ihr Auge streifte noch einmal den Mund, der gesprochen hatte, dann suchte es den Boden.

„Einzig und allein um Ihrer eigenen Beruhigung willen möchte ich Ihnen die Versicherung geben, daß das durchaus unwahr ist,“ fuhr er mit sanftem Ernste fort; „aber wie kann ich von Ihnen verlangen, daß Sie mir glauben sollen? … Wir sehen uns heute zum ersten Male und wissen nichts von einander.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_043.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2018)