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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

hatte schon Spinoza im Auge, als er erklärte, daß die Religion nicht wahre, sondern fromme Dogmen verlange; hier lag der Nerv in dem weltgeschichtlichen Kampfe Lessing’s mit Götze, und diesen Unterschied stellt der „Nathan“ in einem für alle Welt verständlichen Bilde vor Augen; hier wurzelte die tiefgreifende Unterscheidung, welche der scharfe Kritiker machte zwischen der Religion Jesu und der Religion über Jesus. Soweit es galt, die Religion von aller Dogmatik zu befreien, hatten Kant und Fichte Recht, das Wesen der Religion auf die Sittlichkeit zurückzuführen, wie seinerseits Schleiermacher, es weder in einem Wissen noch im Handeln, sondern nur im Gefühle wiederzufinden, wie sehr sonst alle diese Erklärungen über die Religion der Verbesserung bedürftig sein mochten.

Hier, konnte man meinen, sei endlich einmal der Weg entdeckt, auf welchem Wissenschaft und Religion friedlich neben einander gehen könnten, das Mittel für immer gefunden, der Wissenschaft ihre Wege frei zu erhalten und unverlegt durch die anmaßenden Einsprachen der Priester, aber ebenso die Religion in ihrem heiligen Rechte unabhängig zu stellen von den wechselnden Meinungen und Streitfragen des Tages. Hier schien für immer und gründlich von der Religion abgestreift, was ihren bisherigen Gang am meisten geschändet hatte: die Intoleranz. Nie mehr, sollte man erwarten, würde die Verwerfung irgend einer Formel über Gott und göttliche Dinge dem Unglauben an das Göttliche, der Irreligiosität gleichgesetzt werden, und nie mehr würde ein Mensch den andern um seines Glaubens willen lästern oder verdummen. Von dieser hohen Warte aus hatte Schleiermacher das schöne Wort zu seinen Zeitgenossen gesprochen: „Die Anhänger des todten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt; die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen entweder allein für sich und dem Unendlichen oder, wenn sie sich umsahen, Jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigene Art gern vergönnend. Nur die freie Lust des Schauens und Lebens, wenn sie in’s Unendliche geht, setzt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es aus den drückenden Fesseln der Meinung und der Begierde.“ Es war ein ebenso wohlthuendes wie erhabenes Bild, zu sehen, wie zwei unter sich sehr verschieden Denker dem Dritten, den alle Welt vorher um seiner religiösen Meinungen willen als einen Atheisten verabscheut hatte, gemeinsam die Palme der Religion um die Schläfe legten. Jakobi hatte den um jene Zeit neu entdeckten Spinoza mit den Worten begrüßt: „Sei mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus! Wie Du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophiren und in Worten Dich verirren mochtest, seine Wahrheit war in Deiner Seele und seine Liebe war Dein Leben.“ Und Schleiermacher forderte seine Zeitgenossen auf, den Manen des großen Spinoza eine Locke zu weihen; denn die Welt des Glaubens, wie die des Wissens werde eine Auferstehung feiern, wenn die Theologen werden so frei und die Philosophen so fromm sein wie Spinoza. Ich gedachte bei diesem Bilde des großen Galiläers, der seinen Schülern, als sie Feuer und Schwefel über Ungläubige verlangten, das Wort entgegenhielt: „Ihr wißt nicht, weß Geistes Kinder Ihr seid. Ich bin nicht gekommen, zu verderben, sondern zu retten,“ und ich vernahm das Gericht über die Kirche meiner Zeit, wie über diejenige der Vergangenheit, gemeinsam aus dem Munde der Denker wie der Frommen.

Dieselbe Reinigung, wie mit der Historie und der Dogmatik, nahm die Philosophie mit dem Cultus der Kirchen vor. Sie sagte: Der einzig nothwendige Cultus, auf den Alles ankommt, ist die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit. Der vernünftige Gottesdienst, der von Allen verlangt werden kann, ist das gesammte, nach Gottes Ordnung geführte Leben; der wahre Tempel für die Anbetung Gottes ist die Welt mit ihren Versuchungen, Aufgaben und Pflichten; das rechte, allein nothwendige Gebet ist das Leben in der beständigen Nähe Gottes. Jede Meinung, Gottes Wohlgefallen durch etwas anderes zu erlangen als durch eine gottgemäße Gesinnung und einen pflichtgetreuen Wandel, ist nicht Gottesdienst, sondern Afterdienst, wie Kant in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ so kräftig ausführte. Die Kennzeichen der Frömmigkeit sind nicht das Beten, das Kirchengehen, das Bibellesen, nicht das andächtige Schwärmen, sondern ausschließlich das rechtschaffene Handeln, die gewissenhafte und freudige Pflichterfüllung vor den Augen Gottes. Darum kann der Unterschied, welchen die Kirchen aufgestellt haben zwischen geistlichen und weltlichen Geschäften, zwischen heiligen und profanen Dingen, vor der Wahrheit nicht bestehen. Alles, was der göttlichen Ordnung gemäß ist, ist heilig. Was man geistig nennt, Beten, Kirchengehen, Predigen etc., kann sehr unheilig und geistlos geschehen; was man weltlich und profan nennt, bauen und pflanzen, kaufen und verkaufen etc., kann ein sehr geistiges und heiliges Geschäft sein. Die Anbetung Gottes, welche in der heiligen Gesinnung und in rechtschaffenem Wandel besteht, kann von Allen gefordert werden, dagegen, was man außerdem Gottesdienst nennt, was man gewöhnlich allein so nennt, gehört zu den freien Stücken, mit denen es Jeder halten kann nach Bedürfniß, die wechseln und sich ändern nach Land und Zeit und Bildung, die ihren Werth nicht in sich selbst, sondern nur in dem Dienste haben, den sie jener allein nothwendigen Gottesverehrung leisten.

Diese Grundsätze, die doch eigentlich nur erneuerten, was alle Vorkämpfer einer reineren Religiosität von den Propheten Israels an bis auf Luther angestrebt, in classischen Worten ausgesprochen, durch den Kampf ihres Lebens besiegelt hatten, schienen nichts Geringeres zu enthalten, als die Befreiung der Religion von der Kirche. Die Religion ist nicht Historie, nicht Dogmatik, nicht Kirche. Das hieß natürlich nicht: weg mit der Historie, weg mit der religiösen Lehre, weg mit der Kirche! Das hieß nur: Jedes an seinen bescheidenen Ort! Die Geschichte als ein wichtiges Bildungsmittel der Religion, die Dogmatik als der stets erneuerte Versuch, auch den religiösen Factor der menschlichen Natur in den Zusammenhang der gesammten Welterkenntniß denkend einzureihen, die Kirche als die Pflegerin des religiösen Idealismus unter den Völkern, Jedes an seinen bescheidenen Platz! Aber die Religion ist etwas ganz anderes, als diese Dinge.

Die Religion rein menschlichen Ursprungs! Die Religion frei von der Geschichte, von der Glaubenslehre, von der Kirche! Das waren tiefeingreifende, durchschlagende Einsichten. Aber die Wissenschaft ging noch einen Schritt weiter; sie setzte ihr Reinigungsgeschäft bis in den innersten Kern der frommen Gesinnung fort. Daß ich es kurz sage: sie befreite die Religion von der Selbstsucht, die bisher immer mit ihr gelaufen war und ihr reines Wesen getrübt und geschändet hatte.

Alle Kirchen beruhten auf dem Glauben an eine menschenähnliche, willkürlich handelnde Gottheit, welche äußerlich in den Lauf der Dinge einzugreifen die Macht und den Willen habe, daher sich unter Umständen durch Gebete und andere kirchliche Handlungen der Menschen in ihrem Handeln bestimmen lasse. Nicht eine nothwendige, aber eine sehr natürliche Folge dieser Gottesanschauung war die selbstsüchtige Frömmigkeit, welche die Gottheit als Werkzeug für die Erfüllung der Wünsche des Herzens gebrauchte, die lohnsüchtige Religion, welche für ihre Leistungen an Gott die Glückseligkeit in diesem und dem jenseitigen Leben als den verdienten Lohn forderte. Ueberdies: wie kurz ist der Weg von dieser Gottesanschauung zur Gottesleugnung! Man denke sich Luther’s Gebet am Krankenbette von Freunden, oder bei anhaltender Trockenheit („das bitt’ ich mit Ernst, will’s auch gewährt haben“, „erhörst Du uns nicht, so werden die Gottlosen Dich und Deinen Sohn Lügen strafen“ etc.), man denke sich dieses Gebet in einem weniger heroischen und glaubenskräftigen Munde, man denke es unerhört – wie nahe liegt da die Rede: es ist Nichts mit Gott; es regiert keine Weisheit und Liebe im Weltall; Stoff und blinde Nothwendigkeit ist Alles. Zeigt nicht gerade unsere gegenwärtige Zeit in großen Zügen diesen Uebergang vom Gottesglauben der Kirche zur entschiedenen und bewußten Gottesleugnung?

Die Wissenschaft, zu deren Füßen wir damals saßen, ging darauf aus, vom Gewande der Gottheit alles Menschenähnliche, alles Wandelbare und Veränderliche, alles Willkürliche abzustreifen. Sie betrachtete in allen ihren selbstständigen Trägern die Welt unter dem Gesichtspunkte einer festgefügten Ordnung, welche einen Einbruch durch eine außer ihr stehende Gewalt weder irgendwo zeige noch überhaupt gestatte, als einen ununterbrochenen Zusammenhang von natürlichen Ursachen und Wirkungen, in welchen von außen Nichts hineinkomme, und konnte daher das Göttliche nur als den in diesen Ordnungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_150.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)