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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 10.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


11.


Endlich standen sie draußen auf dem weiten, sonnigen Felde. Käthe stützte sich für einen Augenblick auf einen hohen Grenzstein, den eine mächtige Eiche überwölbte, während Flora einige Schritte weiter hinaustrat, um den „entsetzlichen“ Wald möglichst weit hinter sich zu haben. Die Gefahr war vorüber. Weit drüben auf dem Ackerlande arbeiteten Leute. Sie hätten nöthigenfalls einen Hülferuf hören können; man sah die Thürme der Stadt, und dort lief der Weg nach dem Parkthore der Besitzung Baumgarten.

Aber Käthe’s Augen hingen an einem Punkte, den Flora nicht sah, an dem niedrigen Dache mit den hohen Schlöten und den vergoldeten Windfahnen, das so friedlich aus dem Walde von Obstbäumen auftauchte. Sie konnte deutlich das Staket erkennen, das den Garten umschloß; es lag weit näher als das Parkthor, und dahin lenkte sie nach kurzem Ausruhen schweigend ihre Schritte.

„Nun, wo hinaus?“ rief Flora, die bereits auf dem Wege nach dem Parke schritt.

„Nach Doctor Bruck’s Haus,“ versetzte das junge Mädchen, ruhig und unbeirrt weitergehend. „Es liegt am nächsten; dort finden wir vor allen Dingen ein Bett, auf das ich Henriette niederlegen kann, und möglicher Weise auch sofortige Hülfe. Vielleicht ist der Doctor gerade zu Hause.“

Flora runzelte die Brauen und zögerte, aber sei es, daß sie das rachedürstende Weib mit den gekrümmten Fingern immer noch nahe auf ihren Fersen wähnte, oder daß sie fürchtete, zwischen dem Parkthore und dem Walde ohne Hut und in ihrer derangirten Toilette Spaziergängern zu begegnen – sie kam schweigend herüber.

So ging es über das offene Feld hin. Für Käthe war die Aufgabe eine namenlos anstrengende. Der selten betretene Weg durch den weichen Ackerboden war voller Löcher und sehr steinig; bei jedem Fehltritte, den sie machte, fühlte sie aus Furcht vor einer Wiederkehr des schrecklichen Anfalles ihr Blut fast erstarren. Dabei brannte die Sonne, sengend wie im August, auf ihrem unbedeckten Scheitel; von Zeit zu Zeit schwamm die Welt in einem unheimlich rothgelben Lichte vor ihren Augen, und dann glaubte sie, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen, aber in solchen Momenten heftete sich ihr Blick um so fester auf des Doctors Haus; es rückte ja immer näher, das liebliche Bild des ländlichen Friedens und der erquickenden Ruhe. Sie sah nun schon vollkommen klar und deutlich, wie hinter dem Staket emsig hantirt wurde, und bei aller Angst und Ermüdung kam ihr doch ein leises Gefühl der Freude. Der Mann in Hemdsärmeln nagelte dort aus Fichtenästen eine Laube zusammen, eine Laube für die Tante Diakonus. Die alte Frau konnte die weinbewachsene Hütte im kleinen Pfarrgarten nicht vergessen und hatte seitdem nie wieder so im Grünen sitzen dürfen – welche Freude nun für ihr genügsames Herz!

Und jetzt kam sie selbst die Thürstufen herab, im weißen Häubchen, die blauleinene Küchenschürze vorgebunden, und brachte auf einem Teller dem Arbeiter sein Vesperbrod. Sie sprach eifrig mit dem Manne; Beiden fiel es nicht ein, über das Staket in’s Feld hinaus zu sehen. Käthe überlegte eben, ob sie nicht doch um helfende Hände hinüberrufen sollte – in demselben Augenblicke kam auch der Doctor vom Hause her.

„Bruck!“ rief Flora mit dem ganzen frischen Silberklange ihrer Stimme über das Feld hin.

Er blieb stehen und starrte einen Augenblick nach der seltsamen Gruppe, die sich auf ihn zu bewegte; dann stieß er die Thür im Stakete auf und stürmte hinüber. „Mein Gott, was ist denn geschehen?“ rief er schon von Weitem.

„Ich bin einem tollen Mänadenschwarme in die Hände gefallen,“ antwortete Flora bitter lächelnd, aber auch ganz wieder mit jener Geringschätzung und stolzen Nachlässigkeit, die sich durch Nichts in der Welt aus der Fassung bringen lassen. „Das Gesindel hat mit seinen Drohungen Ernst gemacht; ich war in Lebensgefahr, und das arme Ding da,“ sie zeigte auf Henriette, „hat vor Aufregung darüber einen Blutsturz bekommen.“

Er sah nur von der Seite zu ihr hinüber – sie stand ja heil und unversehrt da – und griff mit beiden Armen zu, um Käthe die Kranke abzunehmen. „Sie haben sich übermenschlich angestrengt,“ sagte er, und seine Augen streiften besorgt ihre ganze Erscheinung. Man sah, wie ein nervöses Schütteln durch ihren Körper ging; sie biß krampfhaft mit den Zähnen die Unterlippe, und ihre Wangen glühten, als wollte das erhitzte Blut die zarte Sammethaut zersprengen. … Und daneben stand Flora ruhig athmend, und auf ihrem schönen Gesicht lag nur die duftige, verklärende Röthe der seelischen Erregung.

„Du hättest Deiner Schwester die Last nicht allein überlassen sollen,“ wandte er sich an seine Braut, indem er die bewußtlose Henriette behutsam weiter trug.

Bruck, wie kannst Du das von mir verlangen?“ rief sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_157.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)