Seite:Die Gartenlaube (1876) 191.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

und jetzt fühlte Käthe abermals die Gluth tiefer Beschämung in ihre Wangen steigen; er reichte dem Bedienten das Billet, den vermeintlichen Todesgruß an die treulose Braut, zur Bestellung an einen in der Stadt wohnenden jungen Arzt.

Flora schritt an ihm vorüber, scheinbar, als wolle sie seine Instruction für den Lakaien nicht unterbrechen, und verschwand rasch draußen im Dunkel. Käthe aber ging noch einmal in die Küche und verabschiedete sich von der Tante. Die alte Frau schüttelte mit ernstem Gesichtsausdrucke den Kopf, als sie sich überzeugen mußte, daß „die Braut“ das Haus bereits verlassen habe, ohne sie auch nur eines flüchtigen Gutenachtgrußes zu würdigen, aber sie schwieg und ging dem Doctor nach in die Krankenstube, um noch einmal nach der Leidenden zu sehen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.

Draußen vor dem Hause blieb Flora stehen, nachdem die Schritte des vorausgeschickten Bedienten auf der Brücke verhallt waren. Der durch die offene Hausthür fallende Schimmer der Flurlampe streifte schwach ihr Gesicht – es sah so ergrimmt, so leidenschaftlich beredt aus, als schwebe eine Verwünschung auf den halb geöffneten Lippen. Mit unaussprechlichem Hohne glitt ihr Blick über den rothen Ziegelfußboden und die weißen, kahlen Wände drinnen, dann fuhr er die äußere Frontseite entlang, als wolle er das Gesammtbild der kleinen Besitzung noch einmal umfassen.

„Ja, ja, das wäre so etwas nach meinem Geschmacke gewesen – eine Hütte und ein Herz!“ sagte sie mit einem steifen, drastisch ironischen Kopfnicken. „Einen Mann ohne Amt und Einfluß, über dem Kopfe eine spukhafte Spelunke, mitten im öden Felde, und ein isolirtes Zusammenleben zu Dreien, für welches die schmale Revenue meines väterlichen Erbtheils ausreichen müßte! Nie in meinem ganzen Leben habe ich empfunden, was es heißt, gedemüthigt werden – heute zum ersten Male kam mir in der bedrückend armseligen Umgebung das Gefühl, als sei ich herabgezerrt worden von dem Piedestal, auf das mich makellos gute Herkunft, vornehme Gestaltung der äußeren Verhältnisse und die eigene geistige Begabung gestellt haben. Gott mag geben, daß sich Henriettens Krankheit nicht zum Schlimmsten wendet! Ich könnte ihr kein letztes Lebewohl sagen; denn mich sieht dieses Haus nicht wieder. Wahrhaftig, schmachvoller ist nie ein Mädchen betrogen worden, als ich. – Ich möchte mich selbst in’s Gesicht schlagen, daß ich so blind, so bodenlos unbefangen in diese Verhältnisse hineingetappt bin.“

Sie stürmte wie wahnwitzig der Brücke zu. Das Mondlicht, das sich wie ein dünner Silberschleier über das glitzernde Flußbett hinbreitete, floß schwach an ihr nieder, und der Wind, schon halb und halb zum Sturme gesteigert, fiel sie heftig an; er zauste an ihren Kleidern und blies ihr den atlasglänzenden Umhang vom Kopfe, und die gelösten Locken hoben sich wehend und schlangenhaft züngelnd über der weißen Stirn.

„Er giebt mich nicht frei, trotz meines Flehens und meiner Gegenwehr,“ sagte sie, mitten auf der Brücke stehen bleibend, zu der Schwester, die ihr folgte und nun ohne Weiteres an ihr vorüber schreiten wollte. „Du bist dabei gewesen – Du hast gehört, was für entscheidende Worte gefallen sind. Er handelt ehrlos, erbärmlich, wie eine kalte Krämerseele, die den Untergang eines Betrogenen vollkommen ermißt, und doch auf der Erfüllung des unheilbringenden Contractes besteht. Mag er – mag er sich zeitlebens mit dem Gedanken sättigen, daß ihm ein Schatten von Recht verblieben ist – ich bin von diesem Moment an frei.“

Sie hatte bei den letzten Worten den Verlobungsring vom Finger gestreift und schleuderte ihn weit hinüber in die rauschenden Fluthen.

„Flora, was hast Du gethan!“ schrie Käthe auf und bog sich mit ausgestreckten Händen über das Brückengeländer, als könne sie den Ring noch erfangen. Er war versunken. Ob ihn die Wellen mit fortspülten, oder ob er liegen blieb auf dem Grunde, nahe dem Hause, in welchem das Unheil einzog, sobald warme, liebende Menschenherzen darin schlugen? Das junge Mädchen meinte, das blonde, todte Weib müsse aus dem glitzernden Wasserschwalle auftauchen und drohend das verächtlich fortgeschleuderte Symbol der Treue emporhalten. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen.

„Närrchen, alterire Dich doch nicht, als sei ich selbst hineingesprungen mit Haut und Haar!“ sagte Flora mit kaltem Lächeln. „Manche Andere mit weniger Willens- und Widerstandskraft hätte es vielleicht gethan – ich werfe einfach den letzten Ring einer verhaßten Kette von mir.“ Sie hob die Linke und strich wie liebkosend über den befreiten Ringfinger. „Es war nur ein schmaler, dünner Goldreif, ‚einfach‘, wie es der da drin“ – sie nickte mit dem Kopfe nach dem Hause hin – „in seiner erkünstelten Spartanermanier zu lieben vorgiebt, und doch drückte er grob wie Eisen. Nun mag er rosten da unten – ich fange ein neues Leben an.“

Ja, sie hatte die Last „abgeschüttelt, abgeschüttelt um jeden Preis“, wie sie schon immer gesagt. Das Schreckbild einer verhaßten Ehe versank, und dafür ging „die Sonne des Ruhmes“ auf.

Flora flog davon, als brenne die Brücke unter ihren Sohlen. Käthe folgte ihr schweigend. In der Seele der jungen Schwester stürmte es erschütternd, sinnverwirrend; das klare, gesunde Urtheil, mit welchem sie an die Menschen und Dinge heranzutreten pflegte, war verdunkelt; sie stand völlig steuerlos zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge. Geberdete sich nicht das schöne Wesen da neben ihr, dieses personificirte Gemisch von eclatantem Unrecht, von Uebermuth und grausamer Willkür, so zuversichtlich und tactfest, als könne und dürfe es gar nicht anders handeln? Zertrat Flora nicht ihr gegebenes Wort, ihre Pflichten mit gutem Fug und Recht, gerade so, wie sie jetzt mit ihren raschen Füßen über die Kiesel der Allee hinschritt? – –

Im Corridor der Villa meldete der Bediente den beiden Schwestern, daß die Frau Präsidentin Besuch habe; es seien zwei alte Damen zum Thee gekommen.

„Desto besser!“ sagte Flora zu Käthe. „Ich bin wahrhaftig nicht in der Stimmung, heute noch die Scheherazade der Großmama zu spielen. Die alte Generalin hat immer die Taschen voll Klatsch und Stadtneuigkeiten; da ist man entbehrlich.“

Sie ging, wie sie sagte, für eine halbe Stande hinein, um den Thee zu besorgen und sich dann mit ihrem „übervollen Herzen“ zurückzuziehen. Käthe aber ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen – war es doch auch, als woge ihr das fiebererregte Blut einer beginnenden Krankheit in Kopf und Herzen.




14.


Am anderen Morgen herrschte reges Leben in der Villa Baumgarten. Gegen Mitternacht hatte eine telegraphische Depesche die Rückkehr des Commerzienrathes aus Berlin gemeldet, und eine Stunde später war er angekommen. Er hatte zwei Geschäftsfreunde mitgebracht, die in den Fremdenzimmern logirten. Die Gäste waren Koryphäen der Handelswelt; sie wollten Nachmittags ihre Reise fortsetzen, und um ihnen Gelegenheit zu geben, auf der Durchreise mehrere ihrer Bekannten in der Residenz zu sprechen, hatte der Commerzienrath in der Nacht noch ein großes Herrenfrühstück für den anderen Morgen angeordnet. Köchin und Hausmamsell hatten vollauf zu thun, und die Bedienten liefen treppauf, treppab.

Käthe hatte die ganze Nacht schlaflos verbracht. Die am Tage empfangenen Eindrücke und die Sorge um Henriette hatten sie nicht ruhen lassen. An dem einen Eckfenster ihres Zimmers hatte sie stundenlang gestanden und über die windgeschüttelten Parkbäume hinweggeforscht, ob nicht wenigstens eine im Mondschein flimmernde Spitze der Wetterfahnen auf dem Hause am Flusse zu sehen sei, aber es war wie versunken gewesen, das niedrige Haus, und still geblieben war es dort auch, obgleich Käthe jeden Augenblick gemeint hatte, es müsse Jemand die Allee heraufkommen, um mit einer schlimmen Nachricht die Schlafenden in der Villa aufzurütteln.

Und vom anderen Fenster aus hatte sie dann die Ankunft des Commerzienrathes mit angesehen. Im Nu, wie aus der Erde gestampft, waren die Dienstleute der Villa mit ihren Sturmlaternen um den Wagen postirt gewesen; die hellen Lichtflammen hatten die weißen Säulen des Porticus angestrahlt, hatten sich in dem silberfunkelnden Pferdegeschirre und den glänzenden Leibern der Goldfüchse gespiegelt und waren kräftig genug gewesen, auch das bronzirte, an der Promenade hinlaufende Gitter und mehrere herrliche Marmorfiguren aus dem Dunkel

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_191.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)