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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Von dem schönen, gemüthlichen Familienleben Freiligrath’s in London wollen wir hier nichts weiter ausmalen, da es nur insofern vor die Oeffentlichkeit gehört, als man den Beweis liefern will, daß unser geliebter Dichter in Haus und Herz für alle Qualen eines politischen Nomadenthums entschädigt wurde.

Nur noch einen letzten Blick auf einen würzigen Maiabend bei ihm im Garten! Mirza-Schaffy-Bodenstedt war ebenfalls zum Besuch gekommen. Wir gingen unter blühenden Bäumen und über duftigen Maiblümchen zwischen saftig grünem Rasen auf und ab. Trotz seiner Corpulenz bückte sich Freiligrath, um uns eigenhändig Maiblümchen zu pflücken. Als er noch andere hinzufügen wollte, schalt ihn die Frau mit komischer Entrüstung: Maiblümchen dürften nie durch Hinzufügung anderer Kinder Flora’s beleidigt werden. Ich weiß nicht, ob ich’s sagte oder blos dachte: Frau und Fräulein Freiligrath hatten für mich viel Aehnlichkeit mit Maiblümchen. Die Tochter ist zur schönsten literarischen Blüthe in England gekommen, nicht nur als Uebersetzerin der Dichtungen ihres Vaters, sondern auch als fleißige Mitarbeiterin an literarischen Zeitschriften ersten Ranges.

An demselben Tage war bei dem blonden Käthchen Freiligrath eine ebenso durchgeistigte, fein-brünette Mädchenknospe erschienen und nach kurzer Zeit wieder verschwunden, um bald darauf unerblüht plötzlich in’s Grab zu stürzen. Es war Kinkel’s Tochter Johanna, voll der schönsten Gaben und Hoffnungen für eine lachende Zukunft. Ihre Mutter, mit voller Dichterkraft von Freiligrath besungen, war angesichts des Kindes von der Höhe des Hauses heruntergestürzt und zerschmettert. Als Frau und Künstlerin hatte sie hohen Ruhm erworben, aber die Tochter versprach noch viel mehr – und mußte sterben.

Es war ein duftiger, wehmüthiger Maiabend. Bodenstedt hatte viel, heiter und geistreich gesprochen und gestritten, aber es war und blieb doch gar zu traurig, als alle die lieben Augen und Gesichter in der Nähe des verfallenen Thurmes mitten zwischen verwitterten Grabsteinen von uns schieden und im Dunkel verschwanden.

Warum ist diese Erinnerung so traurig? Ich habe ihn ja seitdem nie wiedergesehen, den theuren Freiligrath, und nun hieß es plötzlich, daß er nach längerem Leiden ebenfalls gestorben sei. Tröstet’s uns wirklich, daß er in seinen Werken fortleben wird? O ja, man muß eben damit zufrieden sein. Wir müssen uns in eine ideale Welt unserer edelsten Dichter und Denker retten. Nun, Gott sei Dank, wir haben Denker und Dichter, wie kein anderes Volk. Und Freiligrath wird als einer der kräftigsten und edelsten von uns auf ewig geliebt und verehrt werden.

Zwei deutsche Dichterkinder, Kinkel’s Adelheid als preisgekrönte Künstlerin und die Tochter Freiligrath’s, die englische Schriftstellerin und deutsche Frau, vertreten noch lebend, wie ihre Väter jahrelang zuvor, den lautesten Geist Deutschlands unter unseren englischen Stammesgenossen.

Dr. H. Beta.




Der Bergsturz zu Caub.


Das verflossene Jahr 1875 war, wie bekannt, im Vergleiche zu den Vorjahren, ungewöhnlich reich an unglücklichen Ereignissen der mannigfachsten Art, die, meistens durch elementare Gewalten, einzelne durch Fahrlässigkeit und infolge Mangels zureichender Vorsichtsmaßregeln herbeigeführt, sowohl für Hab und Gut die verderblichsten Folgen hatten, wie auch den Verlust vieler Menschenleben verursachten. Nicht viel Besseres scheint das neue Jahr 1876 versprechen zu wollen, denn in seinem bis jetzt verflossenen Theile gab es bereits wieder von manchen Unglücksfällen zu berichten. So verbreitete sich auch am Morgen des 11. März von einer Stadt am Rheine aus eine Schreckensbotschaft, welche in dem weitesten Umkreise das schmerzlichste Aufsehen erregte.

Das Städtchen Caub, historisch berühmt durch den denkwürdigen Uebergang Blücher’s über den Rhein in der Neujahrsnacht 1814, bei welchem die Bewohner durch hülfreiche Bethätigung sich verdient gemacht, bekannt durch seine romantische Lage, besonders durch die auf einem Stromriffe sich pittoresk erhebende Pfalz, mußte nun auch zu einer traurigen Berühmtheit gelangen, indem es kürzlich von einem Elementarereignisse heimgesucht wurde, das in seiner Art hier noch selten, dabei schreckenvoll und furchtbar genug war und manchem Bewohner zum Verderben gereichte.

An einer Stromenge belegen, zieht sich der Ort in der Länge von einer Viertelstunde am rechten Rhein-Ufer hin. Der Fluß, im Winter wild und ungestüm, führt seine rauschenden Wogen mit rapider Schnelligkeit vorbei. Seine Ufer weit übersteigend, hat er auch jetzt Strand und Rheinstraße unter Wasser gesetzt und nöthigt die Anwohner der letzteren, die hinter dieser führende Hochstraße zu passiren, deren eine Häuserreihe sich fast unmittelbar an das steil ansteigende Gebirge anlehnt. Enge Gänge verbinden beide Straßen. Auch zwischen den Gasthöfen „Zum grünen Wald“ und „Zum Adler“ an der Rheinstraße führt ein schmales Gäßchen zur Hochstraße hinauf. Die hinter dieser Oertlichkeit, im sogenannten District Kalkgrube sich erhebenden Berghänge waren es, welche unheildrohend über der Stadt schwebten.

Der Tag des 11. März hatte sich geneigt. Die Bewohner waren zur Ruhe gegangen. Friedlich schlummerten Vater, Mutter, Sohn und Tochter neben einander, keiner Gefahr sich bewußt, nicht ahnend, daß Manchem der Tag zum letzten Male erschienen. Nächtliche Stille, zuweilen von einem kurzen heftigen Windstoß und stärkerem Rauschen des Wassers unterbrochen, hatte sich über der Stadt gelagert, eine Frühlingsnacht, die uns Uhland’s Worte „Horch, wie brauset der Sturm und der schwellende Strom durch die Nacht hin“ in’s Gedächtniß rief, war angebrochen. Nur vereinzelte Bewohner mochten sich dem Schlafe noch nicht überlassen haben, wie es auch mir erging. In dem genannten Gasthof „Zum grünen Wald“ wohnend, saß ich an gedachtem Abend in meinem im zweiten Stock nach der Gebirgsseite zu gelegenen Zimmer mit Schreiben beschäftigt. Plötzlich – es mochte elf und ein halb Uhr sein – empfand ich eine momentane heftige Erschütterung. Der Boden schien unter meinen Füßen zu schwanken. Ich hatte indeß nicht Zeit, hierüber nachzudenken; denn unmittelbar darauf erfolgte ein donnerähnliches Getöse, das, mit einem ungemein scharfen und hellen Rascheln, dem Geräusche eines gewaltigen Schloßengerassels nicht ganz unähnlich, beginnend, in einem Krachen und Knattern endete, wie wir es den einschlagenden Blitz begleitend zu vernehmen pflegen. In demselben Moment drangen auch schon Angstschreie und verzweifelte Hülferufe an mein Ohr. Sofort mir bewußt werdend, was vorgegangen, doch starr vor Schrecken, da die Nacht jedes furchtbare Ereigniß doppelt furchtbar macht und ich wegen der anscheinend in unmittelbarster Nähe erfolgenden Detonation nicht anders glaubte, als das Haus stürze zusammen, fuhr ich jäh von meinem Sitze auf. Schon erfolgte ein zweites gleich starkes Getöse – wiederum herzzerreißendes Hülfegeschrei. Mit dem Rufe: „Heraus, der Bergsturz kommt“ stürmte ich die Treppe hinunter, die Hausbewohner zu wecken. Bestürzung und Entsetzen im Antlitz traten diese, mit dem Nothdürftigsten bekleidet, mir entgegen; noch fehlte die Magd, die, im Hinterhause schlafend, in größter Gefahr schwebte. Unmittelbar nach unserem Schrei aber erschien sie staubbedeckt und mit verstörten Mienen; kaum dem Lager entsprungen, war dasselbe hinabgesunken und nur mit vieler Anstrengung hatte sie die bereits versperrte Thür noch aufzureißen vermocht. Doch es galt kein Zaudern. Eine dritte Detonation – alles zusammen vielleicht das Werk einer Minute – trieb uns in größter Eile zum Hause hinaus. Dicke Staubwolken schlugen uns entgegen. Aus den Nebenhäusern flohen die Bewohner bereits ebenfalls in ihren Nachtgewändern, hier weinende Kinder im Arm tragend, dort nach ihren Angehörigen schreiend. Der mächtig aufwirbelnde Staub hatte anfangs die Vermuthung an Brand entstehen lassen, und bald drang der bange Ton der Sturmglocke durch die schauerliche Nacht. Auf diesen ungewohnten Ruf stürmte die aus ihrem ersten Schlummer aufgescheuchte Einwohnerschaft der ganzen Stadt zur Unglücksstätte herbei, noch ungewiß darüber, was geschehen.

Die Schrecken und das Entsetzen dieser Nacht sich zu vergegenwärtigen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_252.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)