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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 23.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)
26.

In der Residenz wußte man sich seit langen Jahren keines Ereignisses zu erinnern, das alle Menschen so furchtbar aufgeregt und in peinlicher Spannung erhalten hätte, wie die Explosion im Thurme, welcher, außer dem Commerzienrath, auch der Müller Franz zum Opfer gefallen war.

Zwei Tage waren seitdem verstrichen, und in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden wandelte sich allmählich die bestürzte Klage, das Bejammern des verunglückten reichen Mannes in dumpfe, erschreckende Gerüchte, die vorzüglich die Geschäftsleute, den Handwerkerstand alarmirten – da stand ja der Name des Millionärs noch mit vielen Tausenden rückständig in den Büchern. Der Commerzienrath hatte alle die neuen Bauten und Verschönerungen auf seiner Besitzung Baumgarten in Accord gegeben, und demzufolge war von seiner Seite bis zu dem Unglückstage nur ein Bruchtheil der Forderungen berichtigt worden. Und nun ging der Ausspruch, den der Ingenieur schon beim ersten Anblick der entsetzlichen Zerstörung rückhaltslos gethan, bestätigt und bekräftigt durch andere Sachverständige, von Mund zu Mund, und die bisher vollkommen zuversichtlichen und Vertrauensseligen Lieferanten und Arbeiter mußten sich nothwendig fragen, wie und wozu das Dynamit in den Weinkeller des Commerzienraths von Römer gekommen sei, just unter die Räume, die alle seinen Besitzstand documentirenden Papiere und Bücher umschlossen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauliche Briefe aus Berlin sprachen von immensen Verlusten, die der Commerzienrath, um dessen entsetzlichen Tod dort noch Niemand wußte, bei den neuesten, rasch aufeinanderfolgenden Concursen erlitten haben müsse. Zwar hatte er es, wie selten ein Speculant, verstanden, vertraute Mitwisser von seinen Unternehmungen fernzuhalten; nicht einmal der frühere Buchhalter der Spinnerei, den er nach Verkauf derselben als Secretär beschäftigte, hatte einen Einblick in seine Börsenmanipulationen gehabt. Der reiche Mann war ferner im Besitz jener glücklichen Begabung gewesen, welche hinter einer stets aufgescheuchten undurchdringlichen Wolke funkelnden Goldstaubes die dunkle Kehrseite der Dinge und Verhältnisse unsichtbar zu machen weiß. Und so wäre es ihm doch vielleicht trotz der Nachricht von seinen Verlusten geglückt, auf immer als Opfer seiner Liebhaberei für das historisch merkwürdige Pulver im Thurmkeller der Burgruine beklagt zu werden, wenn er sich nicht in der Dosis des modernen Sprengstoffes vergriffen hätte – das war die „in den Coulissen gebliebene Lücke, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen würde“, wie Flora gesagt hatte.

Während sich somit in der Stadt noch eine unausbleibliche Katastrophe lawinenartig vorbereitete, gingen auch im Trauerhause unheimliche Wandlungen vor sich. Am ersten Tage waren alle Befreundeten des Hauses herbeigeeilt, und hatten bei aller Gedämpftheit der Stimmen und Schritte dennoch eine Art von Tumult hervorgerufen; am zweiten dagegen herrschte bereits eine tiefe, schwüle Stille in Erdgeschoß und Beletage, die um so drückender erschien, als die Läden vor den meisten der zertrümmerten Scheiben lagen und nur ein ungewisses, beklemmendes Halbdunkel zuließen. Noch ahnte die Frau Präsidentin nicht, daß nach dem furchtbaren Ereigniß ein zweiter Sturz erfolgen werde; noch concentrirte sich all ihr Sinnen und Denken auf das, was nach dem unrettbar Zerstörten von dem großen Vermögen geblieben und wem es zufallen würde. Mit der ganzen Selbstsucht des Alters gingen ihre Gedanken bereits völlig über den Todten hinweg. Nie war überhaupt das egoistische Element, das die Großmutter und ihre älteste Enkelin in gleichem Grade beseelte, so kraß und nackt hervorgetreten, wie in diesen Tagen der Heimsuchung.

Flora hatte der Präsidentin sofort nach der Entscheidung in kurzen Worten angezeigt, daß sie ihr bräutliches Verhältniß zu Doctor Bruck gelöst habe, ohne die Motive zu diesem Entschluß auch nur zu berühren, und die alte Dame war nichts weniger als wißbegierig gewesen – sie hatte, für einen Moment aus ihrem fieberisch angestrengten Grübeln und Brüten aufgeschreckt, halb blöde emporgesehen und sich mit einem Achselzucken begnügt. Wie wenig bedeutend erschien diese Schicksalswendung im Leben der Enkelin neben der Tragödie, die eine hochgestellte, verwöhnte Frau plötzlich aus wahrhaft fürstlichem Luxus in die beschränktesten pecuniären Verhältnisse zurückzuschleudern drohte! Dann hatte sich Flora in ihre Zimmer zurückgezogen; unter dem Vorwande heftigen Unwohlseins war sie allen Condolenzbesuchen ausgewichen und hatte den ganzen ersten Tag mit Ordnen und Umpacken ihrer Effecten verbracht.

Im Souterrain aber, dem Aufenthalte der Lakaien und der Küchenbedienung, herrschte an dem Tage, welcher der lange erwartete und lange vorbereitete Hochzeitstag hatte sein sollen, eine Verwirrung, eine Auflösung alles Bestehenden, wie sie nur ein Haufen fluchtbereiter Menschen hervorbringen kann. Dort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_377.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)