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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Weg zu finden aus dem Labyrinth ihres vielgestaltigen Leidens. Doch bevor wir die Mittel zur Bekämpfung der Krankheit besprechen, ist es in der Ordnung, die Ursachen derselben kennen zu lernen.

Noch vor wenigen Decennien pflegte die Heilwissenschaft die krankhafte Nervosität schlechthin als das Product einer allgemeinen Functionsstörung der Nerven zu betrachten, womit genau dasselbe gesagt ist, als wenn man die Functionsstörung der Nerven als das Product der krankhaften Nervosität ansieht. Dieser vagen Anschauung entsprach die Behandlung. Man hatte ein reiches Arsenal von „Nervenmitteln“, wie Baldrian Asa fötida, Kampher, Castoreum etc. Diese Mittel vermögen allerdings einzelne nervöse Beschwerden vorübergehend zu mildern, aber eine Heilung der Krankheit selbst ist durch sie wohl schwerlich jemals herbeigeführt worden. Die naturwissenschaftliche Methode, welcher die neuere Medicin folgt, begnügt sich nicht mit allgemeinen Begriffen und Phrasen, sie sucht auf dem Wege der exacten Untersuchung dem Wesen der Krankheit zu Leibe zu gehen. Nicht nur unsere Erkenntniß der Krankheiten ist dadurch wesentlich gefördert worden, sondern auch unsere Fähigkeit, dieselben zu heilen, wenn auch der weiteren Forschung und Erfahrung noch sehr viel zu thun übrig bleibt. Gewiß ist, daß der krankhaften Nervosität stets eine materielle Veränderung in der Substanz der Nerven oder des Gehirns oder des Rückenmarks – oft bei allen dreien zugleich – zu Grunde liegt. Wie diese krankhaften Veränderungen zu Stande kommen, ist noch nicht genügend erforscht worden.

Ohne Zweifel haben wir es am häufigsten mit Störungen in der Ernährung der Nervensubstanz zu thun. Die Nerven, das Hirn und das Rückenmark bedürfen, um gehörig functioniren zu können, des ununterbrochenen gesunden Stoffwechsels ebenso sehr wie alle anderen Organe. Besitzt das Blut nicht seine normalen Mischungsverhältnisse, wie z. B. in der Bleichsucht, so wird der normale Stoffwechsel im Gehirne und in den Nerven und hiermit die Function dieser Organe beeinträchtigt. Wir sehen daher die krankhafte Nervosität entstehen in Folge der verschiedensten Momente, welche eine Verschlechterung des Blutes bedingen, z. B. durch Mangel an Bewegung im Freien, längeren Aufenthalt in (besonders durch Kohlensäure) verdorbener Luft, fehlerhafte Diät und dergleichen mehr. Andererseits werden Erkrankungen der Nerven durch Ursachen erzeugt, die ohne Zweifel gleichfalls krankhafte Verändernden in den stofflichen Verhältnissen der Nerven bewirken, während das Zustandekommen dieser Veränderungen weit schwieriger zu erklären ist, als bei den einfachen Ernährungsstörungen. Dahin gehören die nervösen Ueberreizungen und gewisse psychische Einflüsse. Von ersteren sind die sexuellen Ueberreizungen als sehr häufige und gefährliche Ursachen der Nervosität zu nennen; ferner zu große geistige Anstrengungen, besonders im Kindesalter, und der häufige Genuß aufregender Vergnügungen, namentlich wenn diese bis spät in die Nacht hinein dauern. Auch übermäßig betriebene Clavierübungen, wie sie große und kleine Wunderkinder, und die es werden wollen, sich auferlegen, sind hier zu nennen. Die musikalischen Conservatorien zu X. und Y. haben dem Verfasser schon manchen Patienten mit recht schweren Formen der Nervosität geliefert. Die krankmachenden psychischen Einflüsse werden wir näher besprechen.

Erwähnen wir jedoch hier, abgesondert von den anderen Ursachen, einen oft vorkommenden Krankheitszustand, der in der Regel mit beträchtlichen nervösen Störungen verbunden ist. Wir meinen die bei so vielen Patientinnen vorkommenden Lage- und Texturveränderungen gewisser Unterleibsorgane. In allen Fällen, wo eine Vermuthung hierfür vorliegt, säume man nicht, den Rath eines tüchtigen Facharztes (Gynäkologen) in Anspruch zu nehmen, was an dieser Stelle gesagt sein möge, um im weiteren Verlaufe dieser Mittheilungen eine unliebsame Wiederholung zu vermeiden.

Von der größten Bedeutung sind die mannigfachen ursächlichen Momente, welche schon in der Kindheit den Keim zur Entstehung der Nervosität legen. Es ist kaum glaublich, wie so manche Eltern geradezu darauf auszugehen scheinen, ihre geliebten Sprößlinge nach Möglichkeit reif und empfänglich für den Complex von Plagen, den wir Nervosität nennen, zu machen und sie einem an den besten Freuden armen Leben entgegen zu führen. Hier setzt ein unverständiger Vater sein achtjähriges Töchterchen, das soeben mit müdem Rücken von dreistündigem Sitzen auf der harten Schulbank und in der kohlensäurereichen Luft der Schulstube nach Hause kommt, noch eine volle Stunde an das siebenoctavige Marterholz, statt den armen Wurm hinaus in Gottes freie Luft zu schicken, damit die steif gesessenen Glieder sich wieder rühren und die kleine Brust wieder den frischen Lebensbalsam einathmen könne. Dort sehen wir eine thörichte Mutter, welche ihrem Kinde bei Zeiten maßlose Ansprüche einimpft, welche das Leben nie erfüllen wird. Wenn irgend möglich, wird jedem noch so unvernünftigen Wunsche des Kindes gefröhnt, und wo dies nicht möglich ist, wird es bedauert und vertröstet. Das arme Kind wird blasirt, noch ehe es die Kinderschuhe ausgezogen hat, und den Blüthen und Früchten, welche ihm das Leben bieten wird, im Voraus der Duft und Geschmack genommen. Während der oben genannte strafwürdige Vater sich ein bleichsüchtiges, energieloses Wesen großzieht, ist es hier die unvernünftige Mutter, welche ihr Kind verhindert, entsagen zu lernen und seine Willenskraft zu üben. Denn der Eigensinn, welchen sie ihrem Kinde anerzieht, ist von Willenskraft so verschieden, wie die Verneinung von der Bejahung, wie das Mundverziehen des von Leibweh geplagten Säuglings von dem glücklichen Lächeln des sich freuenden gesunden Kindes. Wir haben oben die Schwächung des Willens als ein wichtiges und charakteristisches Symptom der Nervosität angegeben. Es leuchtet ein, wie sehr dieser Krankheit durch eine verweichlichende und verwöhnende Erziehung vorgearbeitet wird, welche schon an und für sich, ohne Zuthun der Krankheit, die Ausbildung eines energischen Willensvermögens verhindert.

Nicht bloß in der fehlerhaften Erziehung, sondern auch in der „höheren Töchterschule“ werden die Keime des späteren Siechthums gelegt. Das tägliche fünf- bis sechsstündige Sitzen in der Schulstube möchte noch angehen, vorausgesetzt, daß dieselbe der Schülerzahl entsprechend geräumig und gut ventilirt ist, und daß zwischen zwei Stunden zehn freie Minuten sind. Aber wenn das Kind, statt nach der Schule sich reichlich Bewegung im Freien zu machen, eine Menge Aufgaben mit nach Hause bringt, zu deren Bewältigung kaum die Zeit ausreicht, so entsteht aus dieser Ueberanstrengung eine Ueberreizung und darauf folgende Ermüdung des Gehirns, welche oft aus munteren, Geist und Leben sprühenden Kindern für lange Zeit traurige, schlaffe Schlafmützen macht oder sie den hundertfachen Plagen der Nervosität überliefert. Und ist denn das, was durchschnittlich erreicht wird, der an Gesundheit und jugendlichem Frohsinn gebrachten Opfer werth? Es ist unvernünftig, das Gehirn der jungen Mädchen mit Kenntnißbrocken aus einer Menge wissenschaftlicher Disciplinen zu bestürmen. Es gehört ein sehr starker geistiger Magen dazu, um diese Fülle von Lernstoffen zu verdauen und nützlich zu verarbeiten. Bedenkt man dazu, daß in der Regel diese didaktische Nudelung mit dem sechszehnten oder siebenzehnten Lebensjahre plötzlich aufhört, und daß an ihre Stelle das Lesen von Romanen, Conversation über Bälle und Theater und dergleichen tritt, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn von den mühsam erworbenen ästhetischen, culturgeschichtlichen, chemischen und anderen Eroberungen bald nur noch einzelne dürftige Bruchstücke von zweifelhaftem Werthe vorhanden sind.

In den späteren Lebensperioden machen mehrfache psychische Einwirkungen sich bei Hervorbringung oder Beförderung der krankhaften Nervosität geltend. Es ist eine interessante Thatsache, daß keineswegs die deprimirenden Gemüthsaffecte im Allgemeinen diese Wirkung haben, sondern nur eine ziemlich beschränkte Kategorie derselben. Getäuschte Hoffnungen, Gefühle vermeintlicher oder wirklicher Zurücksetzung, Kummer über verfehlten Lebenszweck – das ist der fruchtbare Boden, auf welchem die Nervosität vortrefflich gedeiht.

(Schluß folgt.)



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_424.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)