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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


war dabei außer dem Kutscher, kein Gepäck als eine hölzerne Kiste, die am Rücktheil festgeschnallt war. Eine Dame in Trauerkleidung stieg aus, ließ sich ein Zimmer anweisen und erkundigte sich vor Allem, ob der Ortsgeistliche noch an demselben Abend zu sprechen sei. Der Wirth schickte um Nachfrage herauf; bald nachher trat die Fremde bei mir ein. – Sie haben ja das Bild gesehen! Zu jener Zeit war sie jünger, auch versteckt jetzt der Nonnenschleier ihr schimmerndes blondes Haar; sonst ist kein Unterschied, denn schwarz gekleidet und dicht eingehüllt erschien sie damals auch. Nachdem sie mich begrüßt, nannte sie sich mir als Frau Walton und bat mich, ihr die Grabstätte ihrer Schwägerin Emmy zu zeigen. Sie mögen denken, wie überrascht ich war. Also doch! Ich war bisher fast überzeugt gewesen, daß der Name, welcher in jenen Tagen genannt worden, ein fingirter sei.

Froh darüber, das Grab wohlgepflegt zeigen zu können, machte ich mich sofort bereit, Frau Walton zum Kirchhof zu begleiten. Während wir den kurzen Weg zurücklegten, sprach die Dame kein Wort; sie bewegte sich so leise wie ein Schatten; dies fiel mir besonders auf, während die dunkle, leichte Gestalt vor mir her die Stufen zum Kirchwege überschritt – fast schien sie aufwärts zu schweben. Als wir am Ziele waren, kniete sie vor dem Hügel nieder und verhüllte das Gesicht. Ich nahm dies für ein Zeichen, mich zurückziehen zu sollen, und ging heimzu. Es war schon recht herbstlich; auf Schritt und Tritt rieselte das falbe Laub von den Bäumen nieder. Viel zog mir durch Sinn und Gedanken, während ich mich langsam nach Hause begab.

Nach geraumer Zeit trat Frau Walton wieder bei mir ein. Ich rückte ihr den Sorgenstuhl nahe zum Ofen; sie war blaß und zitterte, als fröre sie bis in’s Mark hinein. Kein Wunder, nachdem sie so lange draußen im feuchten Nebel geblieben. ‚Womit kann ich dienen?‘ fragte ich, als wir uns eine Weile schweigend gegenüber gesessen.

Sie erhob ihre traurigen Augen und sagte still, aber mit festem Tone: ‚Ein doppeltes Anliegen führt mich zu Ihnen, Hochwürden. Das Kreuz, welches ich für das Grab meiner armen Schwägerin mitgebracht, bitte ich Sie dort aufrichten zu lassen und mit Ihrem priesterlichen Segen zu weihen. Und dann – hier in der Nähe ist ein Frauenkloster. Könnten Sie mir eine Empfehlung geben, die mir dort Aufnahme als Novize verschafft?‘

‚Sie wollen den Schleier nehmen?‘ fragte ich überrascht. ‚Darf ich fragen, ob Sie diesen Schritt reiflich überlegt haben, ob auch Ihre Familie zustimmt?‘

‚Ich stehe allein,‘ entgegnete sie mit sanftem Tone. Dann beugte sie sich dicht zu mir herüber und frug kaum hörbar, aber eindringlich: ‚Sie haben meine Schwägerin bestattet. Wissen Sie, auf welche Weise sie gestorben ist? – Antworten Sie wie vor Gott!‘

Betroffen schwieg ich einen Moment. ‚Wenn Sie so fragen,‘ sagte ich endlich, ‚dann sollen Sie Wahrheit hören. Nach meinem Ermessen starb Emmy Walton durch ein Verbrechen.‘

Sie senkte tief ihre blasse Stirn. ‚Dieses Verbrechens Ursache war ich.‘

‚Unmöglich!‘ rief ich aus, und das Wort kam aus meinem Innersten. Die lauterste Unschuld sprach aus diesem Gesichte.

Hierauf erzählte sie mir ihre Geschichte. Ja, könnte ich sie mit dem Tone, mit den schlichten und dabei so herzerschütternden Worten wiederholen, welche ich damals vernahm, dann würden Sie einen ganz anderen Eindruck erhalten, als jetzt möglich ist, wo ich Ihnen nur die trockenen Thatsachen erzählen kann.

Ina Walton war eine Deutsche, die Tochter eines hochgestellten Mannes, der kein Vermögen besaß und mit vielen Ansprüchen in der großen Welt lebte. Während einer Reise hatte sie George Walton kennen und lieben gelernt. Der junge Mann legte ihrem Vater den Stand seiner Verhältnisse dar, welche von demselben ungenügend befunden wurden; doch zeigte er sich nachgiebiger, nachdem er erfahren, daß sichere Aussicht vorhanden war, das Vermögen des Bewerbers zu verdoppeln, dessen einzige Schwester im Begriffe stand, den Schleier zu nehmen und dem Bruder ihre Habe zu überlassen. Ina selbst, die mit der Kenntniß solcher Verhandlungen verschont geblieben war, erfuhr nun, daß die Schwester ihres Geliebten Nonne zu werden wünschte und verlangte lebhaft danach, sie zuvor kennen zu lernen. Da sich Emmy gegenwärtig bei einer Verwandten aufhielt, weil nach Klosterregel ein Jahr Zwischenraum erforderlich ist, ehe eine Pensionärin Novize werden kann, versprach der Bräutigam, sie womöglich zur Hochzeit mitzubringen, nachdem er zuvor in seine Heimath gereist war, um sein Haus zu bestellen. Zur Bestürzung der Braut traf aber, als der Hochzeitstag schon ganz nahe bevorstand, ihr Verlobter verspätet, allein und in dieser Verstörung ein, da er während der Reise seine junge Schwester durch den Tod verloren hatte. Trotzdem wurde die Trauung ohne Aufschub in aller Stille vollzogen, und das vereinte Paar reiste nach Irland ab.“

Der geistliche Herr sann einen Augenblick nach.

„Ist mir doch,“ fuhr er dann belebter fort, „als sähe und hörte ich die arme junge Frau eben jetzt! – Ihre Stimme klang so süß und traurig, als sie auf ihre Ehe zu sprechen kam, wie sie Beide einander geliebt, und daß sie doch niemals glücklich gewesen, keinen Tag, keine Stunde lang. Daß ihr der Gatte Alles gab, nur sein Vertrauen nicht, daß sie immer ein Ungesagtes zwischen ihm und sich empfunden, etwas, das man nicht sieht, nur fühlt, etwas, das ihn so lange drückte, bis es ihn erdrückt hat – alles das erzählte sie mir.

Sechs Wochen, bevor sie zu mir kam, war ihr Gatte nach einem wilden Ritte heftig erkrankt und gestorben. In seiner Todesstunde hatte er zu ihr gesprochen.

Was sie mir davon wiederholte, war keine Beichte; sie betonte nachdrücklich, ich möchte damit schalten nach Bedarf, denn sie meinte, weil ich von diesem Verbrechen wisse, würden sicherlich auch Andere davon Kunde haben, und um ihres Todten willen hielt sie nicht mit der Wahrheit zurück. Was ich erfuhr, war allerdings ein Anderes, als was ich noch beim Beginne ihrer Erzählung geglaubt.

Als George Walton, ein glücklicher Bräutigam, nach Irland zurückkehrte, hatte er seiner Schwester Gedanken verändert gefunden; sie verlangte in der Welt fortzuleben, welche sie seit Kurzem kennen gelernt. Dies kam in jeder Weise unerwartet, denn des jungen Mädchens früh gefaßter Entschluß hatte schon aus dem Grunde die Zustimmung ihrer Familie gefunden, weil sie, von Kindheit auf überzart organisirt, durch stete Kränklichkeit auf ein Stillleben angewiesen war. George überzeugte sich bald, daß phantastische Neigung zu einem jungen Wüstlinge, welchem Emmy nie hätte angehören können, die eigentliche Triebfeder ihrer veränderten Entschlüsse war; nicht nur um seinetwillen, auch ihrer selbst willen bot er Alles auf, ihre Gedanken wieder zu wenden. Als er damit scheiterte, blieb ihm nichts übrig, als dem Vater seiner Braut offen mitzutheilen, daß die ihm dargelegten Verhältnisse nicht mehr die gleichen seien. Die Antwort, welche er empfing, überbot seine schlimmsten Befürchtungen; sie sprach Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit aus, beschuldigte ihn absichtlicher Vorspiegelung und kam fast einem Bruche gleich. Walton war ungewiß, ob der Vater seiner Braut wirklich an seiner Ehrenhaftigkeit Zweifel hegte, oder ob der Umstand, daß solche Veränderung seiner Aussichten im letzten Momente zur Sprache kam, nur den erwünschten Vorwand zur Auflösung einer Verbindung lieh, welche überhaupt ungern zugegeben worden – um so gewisser erschien ihm der drohende Verlust der leidenschaftlich Geliebten. Er konnte diesen Gedanken nicht ertragen und schrieb zurück, seine Schwester würde ihn nach Deutschland begleiten und persönlich ihre nur für kurze Dauer erschütterten Absichten zu seinen Gunsten bestätigen. Er selbst glaubte das, oder täuschte sich wenigstens in solchen Glauben hinein.

Emmy’s unglückliche Neigung, ihre schwache Gesundheit, der früher so lebhaft geäußerte Hang zum Klosterleben – das Alles ließ ihm die Aufgabe, ihren Sinn wieder zu wenden, als Nothwendigkeit erscheinen, nicht minder für sie als für sich. Noch hatte er ihr nicht von dem Gewichte gesprochen, welches ihr Entschluß in die Schale seines eigenen Glückes warf; er beredete sie, ihm zu seiner Hochzeit zu folgen. Unterwegs sagte, gestand er ihr Alles, bestürmte sie mit allen Mitteln der Liebe und Bitte, sich seinen Gründen zu fügen. Sie weigerte sich mit einer Ausdauer, welche er von dem zarten Kinde nicht erwartet und die ihn zur Verzweiflung trieb. Er machte mit ihr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_428.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)