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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


einen Umweg nach dem andern; er meinte, zuletzt müßte sie seinem Drängen nachgeben. Jetzt stand nicht sein Glück allein, jetzt stand wirklich seine Ehre auf dem Spiele – wie durfte er vor seine Braut treten, die von Nichts wußte, wie vor deren Vater, wenn er zum zweiten Male nicht wahr machen konnte, was er demselben zugesagt? Seine rastlose, fieberische Angst wuchs zur äußersten Erregung. Der Gedanke an die immer näher drohende Entscheidung umklammerte ihn wie mit Krallen, zuletzt gab sie ihm das grausamste Mittel ein.

Wann und wo, zu welchem Zwecke er sich das unselige Pulver verschafft haben mochte – wer weiß das! In jener verhängnißvollen Stunde, wo alle guten Geister ihn verließen, schüttete er es in Emmy’s Gegenwart in ein Glas und schwur einen hohen Eid, sich vor ihren Augen zu tödten, wenn sie dabei beharre, sein Glück zu vernichten, ohne doch ihr eigenes zu gewinnen. Aber auch sie, die arme Unschuldige, war bis zum Aeußersten getrieben. Unversehens riß sie das Glas an sich und leerte es im gleichen Augenblicke selbst mit einem Zuge.“

Der Pfarrer schwieg. Vielleicht ließ ihn nur der Ausruf abbrechen, welcher mir unwillkürlich entschlüpfte: „Verhängniß!“

Er schüttelte leise den ehrwürdigen Kopf. „Gott sei den armen Seelen gnädig!“ sagte er, „dieses Wort mußte ich auch zu ihr sprechen, als sie geendet hatte und ihr gesenktes Haupt erhob. Flüsternd wie ein Beichtkind hatte sie zu mir geredet, nur daß sie statt eigener Sündenschuld Reue und Buße für die Andern auf ihre unschuldige Seele nahm. Ihr letztes Wort ist mir unvergessen in’s Gedächtniß geschrieben. ‚Sie wissen jetzt, mein Vater, weshalb das Kloster meine Heimath werden muß,‘ sagte sie da, ‚und warum hier. Das irdische Gut sei der Armen! Helfen Sie mir an mein Ziel!‘“

„Und Sie haben ihr geholfen? Und Sie hören zuweilen von ihr?“

Er nickte still bejahend. Ein Luftzug bewegte seine spärlichen weißen Haare, während er das Auge nach dem See hinüberstreifen ließ, dessen schimmernde blaue Fläche fernher glänzte.

„Voriges Jahr besuchte mich der Beichtvater des Klosters vom Wörth. Schwester Celeste hat ihm als Gruß das Bild mitgegeben, welches Sie gesehen, und die Trauerschleife, die sie eigenhändig für das Grabkreuz gestickt.“

„Und was erfuhren Sie sonst von ihr? Hat sie Frieden gefunden?“

„Frieden? Sie war allezeit schuldlos,“ sagte der Pfarrer, „und ihre Sühne ist Liebe, wie auch alles Sündigen in dieser unglückseligen Verkettung von Schicksalen nur übel verstandene Liebe gewesen. Liebe aber wird jedem Unschuldigen zum Frieden.“

Wir fuhren in die zum Schlosse führende Nußbaumallee ein. Von jenseits des Sees klang das Horaglöckchen des Nonnenklosters schwach durch die stille mittägige Luft.

A. Godin.




Nervöse Leiden.
Von Dr. J. Schwabe.
(Schluß.)


Wir dürfen diesen Abschnitt nicht schließen, ohne noch mit einigen Worten der Verstöße zu gedenken, welche gegen die gesundheitsgemäße psychische Diät („geistige Ernährung“) sehr häufig begangen werden, und im Vereine mit anderen Schädlichkeiten die Entstehung der Nervosität befördern. Das Gehirn, welches wir ja doch als Urquell, Regulator und Rückflußreservoir aller Nerventhätigkeit zu betrachten haben, bedarf nicht nur gesunder materieller Ernährung durch das ihm zugeführte Blut, um gesund functioniren zu können, es gehört dazu auch, daß seine Thätigkeit in geeigneter Weise geübt werde. Aber damit, meine geehrten Damen, sieht es bei sehr vielen unter Ihnen wirklich schlimm aus. Ich rede nicht von den wackeren Hausfrauen, deren Verstand, Gemüth und Willensvermögen durch umsichtige Führung des Haushaltes und durch die Sorge für die Erziehung ihrer Kinder hinreichend geübt wird, wenn ihnen auch keine Zeit für geistige Beschäftigung im engeren Sinne des Wortes übrig bleibt. Ich rede von den jungen und älteren Damen, die viele freie Zeit übrig haben und dieselbe mit nichts ausfüllen, was einer ernsten, nützlichen, die geistige Ausbildung fördernden Beschäftigung ähnlich sieht.

Statt einer energischen geistigen Anregung geben sich Viele dem übertriebenen Romanlesen hin, welches den Geist verweichlicht, ihm eine ungesunde träumerische Richtung giebt. Von Zeit zu Zeit einen guten Roman zu lesen, ist ja eine angenehme und selbst anregende Unterhaltung; nur das Uebermaß ist schädlich. Noch eine andere Art der Lectüre, welcher heutzutage recht häufig gefröhnt wird, muß ich aus ärztlicher Erfahrung als höchst schädlich für Alle, die zur Nervosität und Gemüthsverstimmung incliniren, bezeichnen. Es sind dies die dicken, mit zehn oder zwanzig verschiedenen belletristischen Journalen gefüllten Mappen, welche allwöchentlich aus den selbst in den kleinsten Städten zu findenden Journalcirkeln den Familien zugetragen werden. Ist auch ein gutes Journal ohne Zweifel ein gutes Bildungs- und Bindungsmittel am Familientische, so ist doch leicht einzusehen, daß die zehn oder zwanzig verschiedenen Inhalte, auf einmal oder kurz nacheinander genossen, ein Ragout bilden, welches unmöglich eine gesunde geistige Nahrung gewähren kann. Solche Lectüre zersplittert, zerstreut und überreizt, statt den Geist zu sammeln und zu stärken und seine Weiterbildung zu fördern.

Der Frage, wie die Nervosität zu heilen sei, möchte wohl manche Kranke, die See- und andere Bäder, Mineralwasser-, Stahl- und andere Curen und einen Arzt nach dem anderen vergebens gebraucht hat, die mit wenig Vertrauen ausgesprochene andere Frage vorausschicken: ob es denn überhaupt möglich sei, von einmal ausgebildeter Nervosität befreit zu werden? Hierauf antworten wir, gestützt auf vieljährige und reichliche Erfahrung: in jedem, auch dem schlimmsten Falle, ist Besserung der vorhandenen Leiden, und in den meisten Fällen ist Heilung zu erreichen. Nur gehört Geduld und Ausdauer dazu. Immer aber ist es leichter, Krankheiten zu verhüten, als sie zu heilen. Besprechen wir zunächst, wie diese Aufgabe zu lösen ist, deren wichtigster Theil der Erziehung anheimfällt.

Väter und Mütter, Ihr könnt Euern Kindern Eure Liebe durch nichts besser erweisen, als wenn Ihr ihnen vom ersten Lebensjahre an eine in leiblicher wie in geistiger Beziehung etwas harte Erziehung gebt. Der Ausdruck hart ist nicht mißzuverstehen; es soll damit lediglich das Gegentheil von Allem, was geistig und körperlich verweichlicht, bezeichnet werden.

Die Kost des Kindes sei einfach, leicht verdaulich und nahrhaft. Je näher dem ersten Lebensjahre, um so ausschließlicher bestehe sie aus Milch, dem vollkommensten aller Nahrungsmittel. Ganz entgegen dem bornirten Geschwätze alter Fraubasen, die da behaupten, das Kind, das kaum laufen gelernt hat, müsse von Allem mitessen, was auf den Tisch kommt (wodurch dicke Bäuche und dünne, krumme Beine und andere Symptome der Scrophulose erzeugt werden), ist es eine wahre Freude, ein in der Fülle von Kraft und Gesundheit blühendes Kind zu sehen, welches weit über das erste Jahr hinaus ausschließlich mit guter Milch genährt worden ist. Alle aufregenden Getränke, wie Bier, Wein, Kaffee etc. sind zu vermeiden. An dem Volksglauben, daß die Kinder durch Kaffeetrinken grillig und unartig werden, ist etwas Wahres. Schädlich ist der Genuß von Leckereien, wozu jedoch das Obst nicht zu rechnen ist. Sie verderben die Verdauung und die Zähne und schaden überdies dadurch, daß sie das Kind verwöhnen. Ebenso wichtig wie gesunde Kost ist der häufige und reichliche Genuß der freien Luft und tüchtige Bewegung in derselben. In den ersten Lebensmonaten ist das Kind täglich in Wasser von 28 bis herab zu 25 Grad Réaumur Wärme zu baden. Nach dem ersten Lebensjahre muß mit dieser Temperatur ganz allmählich herabgegangen werden bis auf 15° und noch weniger, aber das Wasser von dieser kühleren Temperatur ist nicht als Bad, sondern in der Form von täglichen Abwaschungen des ganzen Körpers zu appliciren. Daneben ist der wöchentlich einmalige Gebrauch eines warmen Bades von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_430.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)