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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Redenden und erfüllt diesen Zweck um so besser, je weniger sie befremdet. Wie man Jemanden zum Sitzen nöthigt und ihm eine Cigarre anbietet, um sich auf die Basis des Ausgleichs mit ihm zu begeben, so ist es ein alter Gebrauch von erprobter Wirksamkeit, die Sprechweise seiner Umgebung zu beobachten mit der man auf ebener Erde verkehren will und muß. Das Loos des Heimathlosen ist nicht zum Mindesten deshalb so bitter, weil ihm seine Umgebung, wie die Erfahrung lehrt, auch nach langen Jahren noch den Fremdling anhört, der gewöhnliche Mann ihm unhöflicher, der Gebildete ihm mit oft unerträglicher Zurückhaltung begegnet.

Jener Mime und ich wurden bald gute Freunde. Ich lernte von ihm Englisch auf englische Weise sprechen und habe seitdem das Glück gehabt, schon oft, namentlich im „English & American Club“ in Leipzig, für einen geborenen Engländer gehalten zu werden. Wie ich nach Abzug der bühnenmäßigen Uebertreibungen ersah, beruht der Unterschied des Lautcharakters zweier Sprachen oder Dialecte in einer angeborenen oder habituellen Mundstellung; es liegt hierbei meist eine der Race oder denn Volksschlage eigenthümliche Bildung der Sprachorgane zu Grunde.

Die Engländer sind nach Creasby, dem Herausgeber eines isländisch-englischen Dictionärs, ihrer Sprache und ihrem Blute nach weit mehr den skandinavischen als den angelsächsischen oder gar den alemannischen Völkern verwandt. Die binnenländisch-sächsischen Elemente sind in England hinter den seefahrenden normännischen zurückgeblieben: die bequemen Athelstanes in Scott’s „Ivanhoe“ sind fast ausgestorben, und so ist bei den Engländern wie in Skandinavien der Langschädel vorherrschend. Dem langen Schädel entspricht aber eine lange Nase, ein langes Kinn, eine lange Zunge. Dazu kommt, daß das englische Leben durchweg eine gewisse Bestimmtheit des Zweckes, eine rücksichtslose Energie im Menschen zeitigt, welche, ebenso wie das lange Kinn, ein physiognomisches Merkmal der eingeborenen Energie bildet, auch ihrerseits mimisch durch ein vorgeschobenes Kinn zum Ausdrucke kommt. – Und diese Gebärde, so zu sagen, tritt namentlich beim Reden in die Erscheinung. Denn es gilt von der Sprache wie vom Charakter das Wort des Sokrates: „Rede, damit ich Dich sehe!“ Erst beim Sprechen erhält die Sprache ein Gesicht, welches der Sprachlernende in erster Linie beobachten müßte, weil dasselbe aus den Lautcharakter von bestimmendem Einflusse ist.

Der Engländer hat nämlich nicht nur von Natur eine weichere, flüssigere Sprache, ähnlich dem Element, auf welchem er so groß ist, und entsprechend den niedersächsischen Idiomen Deutschlands, Hollands, Skandinaviens, sondern diese Weichheit wird von ihn gewohnheitsmäßig bis zur scheinbaren Schlaffheit getrieben. Die rollenden, schnarrenden, heulenden Consonanten des Deutschen sind dem aalglatten, an Schleifungen, Vocalen, stummen Consonanten und Diphthongen so reichen Englisch fast unbekannt Selbst die gesteigerte Nachlässigkeit unsrer lallenden Gecken kommt dagegen nicht an. Sie bleibt ein Bastard; die englische ist Vollblut.

Trotzdem ist es nicht schwer, sie bis zur Vollendung nachzuahmen, wenn man die Vorsicht gebraucht, beim Englischsprechen einfach den Unterkiefer vorzuschieben. Sofort tritt auch die gewünschte Lautverschiebung ein. Wie mit einem Zauberschlage verwandelt sich dann der deutsche Consonant W in den englischen Vocal Doppel-U. unser sprödes Th wird zu dem unsäglich zarten Lispellaut des Briten und jede Härte zur Unmöglichkeit, selbst das geschnarrte R. welches im Englischen nicht vorhanden ist, verschwindet von selbst. Es ist bei vorgeschobenen Kinn nicht mehr möglich, mit deutscher Entschiedenheit, Deutlichkeit und consonantischer Langsamkeit an Gaumen zu arbeiten, sondern man ist gezwungen, die Zunge vorn an und meist sogar unter den Zähnen des Oberkiefers spielen zu lassen. Sie hat statt langer Wege nur noch kurze zu machen, statt schroffer „Alls“, „Alks“, „Aws“ erscheint der englische Halbdiphthong „Aoh“, aus Knie wird Nie etc.

Es würde wohl zu weit führen, wolle ich diese Beobachtungen hier im Hinblick auf andere Sprachen zu einem Gesetze entwickeln. Dem Praktiker genügt die Andeutung; die Nutzanwendung muß man ihm überlassen. Abgesehen von mimischen Merkmalen, z. B. dem schlaffen oder straffen Gaumensegel der musikalischen und unmusikalischen Idiome, spielt das Kinn die Hauptrolle. Und zwar ist der Regel nach die Zunge und die untere Nase proportionirt. Die Nase steht in einem Rapport mit der Zunge, nicht bloß in Betreff der Geschmacks- und Geruchsempfindungen, welchen beiden der gemeinsame Nerv des vierten Schädelwirbels, der Sensorius, dient, sondern auch in Bezug auf ihre Dimensionen. Eine lange, schmale Nase bedingt eine lauge schmale Zunge und diese eine gelispelte Zahnsprache. Und solche ist die englische. Bei den Celten, Iren und Franzosen herrscht die breite, kurze Nase und Zunge vor; ihre Sprache ist demgemäß eine consonantische, geheulte oder doch eine Gaumensprache. Bei den kleinbenasten Chinesen und Mongolen geht die Heulerei so weit, daß sie lauter einsilbige Wörter haben und ein Wort wie „Christus“ in „Chi-li-si-tu-si“ auseinanderlegen. Sie haben kein R, und es scheint, daß auch hierin die Extreme sich berühren, da die lispelnden Engländer und die näselnden Chinesen beide dieses Lauts entbehren. Immerhin dürfte der angeregte Gedanke fruchtbar sein, und es sollte den Verfasser freuen, wenn, abgesehen von dem praktischen Werthe, den der gegebene Wink für den Deutschen im Auslande vielleicht hat, aus diesem „linguistischen Ei des Columbus“ etwas sich entwickelte, das dem Grimm’schen Gesetze der Lautverschiebung zur Erklärung diente.

Ott. B.





Blätter und Blüthen.


Water-Closets in den Eisenbahnzügen. Die „Gartenlaube“ hat schon mehrmals das heikle Thema der fehlenden Water-Closets in den deutschen Waggons erwähnt, und erst in Heft Nr. 13[WS 1] dieses Blattes sprach sich G. Rohlfs über den Vorzug des amerikanischen Wagensystems in dieser Beziehung aus. Wenn wir heute abermals aus den sehr wenig ästhetischen, praktisch aber um so bedeutsameren Punkt zurückkommen, so geschieht dies im Hinblick auf den augenblicklich gerade besonders geeigneten Zeitpunkt und in Anbetracht der großen Wichtigkeit des Themas für die Gesundheit von Tausenden. Da jetzt die Frage der Centralisirung aller deutschen Eisenbahnen unter einheitliche Reichsverwaltung an der Tagesordnung ist, so dürfte es sich gerade für die Direction der Reichseisenbahnen besonders empfehlen, durch Rücksichtnahme auf den Comfort und die Bedürfnisse des reisenden Publicums mit gutem Beispiele darin an der Spitze zu stehen, und würde dieses Vorgehen jedenfalls die Mehrzahl des Publicums für das Project der Einigung aller deutschen Eisenbahnen weit zugänglicher machen. Man wird sicherlich in zehn bis zwanzig Jahren darüber staunen, daß man in der Jetztzeit, wo sich der Fortschritt in Kunst, Industrie, Wissenschaft und Humanität so augenscheinlich offenbart, eine so nöthige Einrichtung für das reisende Publicum aus bloßer Oberflächlichkeit oder kleinlicher Sparsamkeit ganz aus dem Auge lassen konnte, während nicht allein die Humanität, sondern auch die Moralität gebieterisch diese Einrichtung erheischt. Es giebt sehr viele Leute, welche das Reisen nicht gewöhnt sind, und sobald solche fremde Luft athmen oder andere Nahrung genießen, erleiden ihre natürlichen Funktionen gewisse Veränderungen, welche sich aber gerade auf der Reise in unangenehmster und störendster Weise fühlbar machen. Solche Leute sind dann oft den größten Gefahren in Bezug auf ihre Gesundheit beim Reisen ausgesetzt und unterlassen dasselbe, wenn möglich, gänzlich, solange nicht ein neues Eisenbahnsystem oder doch irgend eine Vorrichtung eingeführt worden ist, welche dem beregten Uebelstande gründlich abhilft. Wie schlimm sind doch die Damen in dieser Beziehung auf der Reise daran!

Leidende Personen wissen sich in Schnellzügen oftmals gar nicht zu helfen, denn wen nach einigen Stunden der Zug nur wenige Minuten an einer Station verweilt, so ist diese Zeit viel zu kurz, um sich waschen, restauriren und andere Bedürfnisse befriedigen zu können. Daraus erklärt sich auch zum Theil jene nervöse Aufregung des reisenden Publicums, die sich besonders bei Damen so sehr bemerklich macht und während des kurzen Aufenthaltes an der Station oft zu den widrigsten und anstößigsten Scenen Veranlassung giebt. Bei den gewöhnlichen Post- und Personenzügen findet so oft ein Aufenthalt statt, daß die Einrichtung von Water-Closets, wenn auch nicht unnöthig. so doch nicht dringend erforderlich ist, dagegen wäre den Eil- und Courierzügen die sofortige Herstellung derselben eine Pflicht gegen das Publicum, der sich die Eisenbahnverwaltungen für die Länge der Zeit nicht werden entziehen können, um so weniger, als so auch die Reisenden die letzten Preiserhöhungen sich gefallen lassen mußten, ohne bisher in der inneren Einrichtung des Waggons ein Aequivalent dagegen zu erhalten. Sollte sich bei der jetzigen Construction unserer Waggons die nöthige Aenderung absolut nicht bewerkstelligen lassen, so verwende man diese Wagen, die ohnedies zum größeren Theil schon sehr abgenützt sind, für die gewöhnlichen sogenannten „Bummelzüge“; dagegen wird man für die Courier- und Eilzüge dann eben ganz neue Waggons mit Water-Closets und etwas mehr Raum zur freien Bewegung neu anfertigen lassen müssen. Selbst auch eine weitere Erhöhung der Fahrpreise für solche Züge werden sich die Passagiere gewiß gern gefallen lassen, wenn nur ihrer Bequemlichkeit dabei nach moderner Anschauung Rechnung getragen wird. Die starke Frequenz der amerikanischen Schlafwagen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Heft 4
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_439.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)