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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


oder mit dem gebräuchlicheren Kosenamen Dob Berisch. Er war, als Israel starb, um zwei Jahre jünger als dieser, überlebte ihn aber um zweiundzwanzig Jahre. Geschickt wußte er den Ruhm seines Vorgängers, das Ansehen, welches sein Name genoß, die verworrenen Glaubenssätze, die er aufgestellt hatte, zu seinen Gunsten auszunützen. Er brachte System in den Wahnsinn und erhob den ekstatischen Wahnwitz des ungebildeten Dorfschenkers zu einem raffinirt und teuflisch klug ausgesonnenen Organismus, der allmählich die ganze Judenschaft von den Karpathen bis zum Ural umklammerte und ihm unterwarf.

Er verließ vor allem Miedziboz und die Schenke und übersiedelte nach Mizricz in Volhynien. Hier kaufte er ein Haus, in welchem er, nur dem engsten Kreis seiner Vertrauten zugänglich, lebte. Nur mit Mühe und nach mehrtägigem Warten konnten die gläubigen Wallfahrer, die nach dem neuen Mekka und zu dem neuen Propheten ebenso pilgerten, wie nach und zu dem alten, „vor sein Antlitz treten“. Er trat ihnen hoheitsvoll und milde, imponirend und doch leutselig entgegen. Seine hohe Gestalt umhüllte ein weißseidener Kaftan; ein weißes Käppchen deckte seinen Scheitel; die Füße steckten in weißen Pantoffeln. Vom Scheitel bis zur Sohle durchaus in die lichte Farbe der Unschuld und Reinheit gekleidet, das dunkle Auge freundlich und doch durchdringend auf den Besucher gerichtet, nahm er von vornherein auch die skeptischeren seiner Besucher für sich ein. Er ließ sie aber nicht zu Worte kommen; halb scherzend, halb mit prophetischem Ernst sprach er von ihren Angelegenheiten. Die verborgensten Geheimnisse schienen vor ihm offen zu liegen; in die tiefsten Falten des Herzens, in das innerste Innere des Gemüthes schien sein Prophetenauge zu dringen. Und für alle die Leiden und Beschwernisse, die man ihm vorbrachte und vorzubringen vermochte, hatte er helfenden Rath oder zum mindesten ein tröstendes und stärkendes Wort und scherzte den herbsten Kummer mit heiterer Rede weg.

Was die Beschwörung Gottes durch Handauflegen und Gebet betrifft, so übte er sie ebenso wie sein Vorgänger, aber nicht so häufig. Er erklärt diese seine Macht für einen besonderen Gnadenschatz, den man nicht verschwenden dürfe. Um ihn zu bewegen, daß er durch die Kraft seines Gebetes drohende Gefahren abwende oder schwere Krankheiten heile, das heißt Gott zwinge, jene abzuwenden und diese zu heilen, mußte man ein „Pidion“, das ist ein reiches Geschenk, ihm spenden. Dieses Pidion ward bald zu einem wohldurchdachten Steuersysteme ausgebildet, welches den Säckel des Propheten constant füllte. Er erhob das Spenden zu Gunsten seiner Casse zu einem Fundamentalartikel des Religionssystems, in welches er die tollen Phantasmen seines Vorgängers brachte. Der Mittelpunkt dieses Religionssystems war er selber; er nahm den Titel „Zadik“, das ist der Fromme und Gerechte, an, und der Glaube an den Zadik bildete den ersten und vornehmsten Grundsatz des neuen Glaubens. Wer sich zu ihm bekannte, mußte von der Ueberzeugung durchdrungen sein, daß der Zadik der vollkommenste, ein sündenloser Mensch, daß er der Stellvertreter und das vollkommene Abbild Gottes auf Erden sei und daß jede seiner Handlungen, auch die geringfügigste, zugleich eine That Gottes sei. Wenn er sich den Bart kämmt, die Schuhriemen bindet, wenn er seinen Tschibuk raucht, so ist das Alles ein Ausfluß des göttlichen Wesens. Wer fromm und gottgefällig leben will, muß in Allem dem Zadik nachzuleben suchen; wer genau so die Schuhe sich schnürt, wer genau so den Tschibuk raucht wie er, ist Gott wohlgefälliger und des ewigen Heils gewisser als der gelehrteste Talmudist und der frömmste Büßer. Diese überirdische Stellung des Zadik in der irdischen Schöpfung legt den Bekennern seines Glaubens drei Pflichten auf: die Pflicht, zu ihm zu wallfahrten, ihm zu beichten und ihm Geschenke zu spenden. Wer diese drei Pflichten erfüllt, ist ein „Chassid“, ein Frommer.

Indem Dob Beer so die urwüchsige Tollheit seines Vorgängers in ein raffinirtes System brachte, vervollständigte er auch den äußeren ritualen Apparat, den Jener geschaffen. Den Grundsatz, daß man Gott „in Fröhlichkeit dienen“ solle, behielt er bei. Das Springen, Singen, Klatschen beim Gebete wurde immer grotesker und wilder. Scherz und Lachen bildeten regelmäßig die Introduction des Gottesdienstes, und zuweilen wurde eine solenne Prügelei in der Synagoge veranstaltet, um die ermatteten Lebensgeister zu beleben. Der Zadik empfahl auch den Genuß des Tabakrauchens vor dem Gebete – Samstag ausgenommen – als ein zur würdigen Stimmung anregendes Mittel.

Israel von Miedziboz war ein betrogener, Berisch von Mizricz war ein raffinirter Betrüger. Um seinem Prophetengeschäfte sichere Grundlagen zu verschaffen, organisirte er eine förmliche Kundschafterpolizei, die geradezu vollkommen zu nennen war. Die Gläubigen, die zu ihm kamen, wurden, wie schon oben erwähnt, erst nach Verlauf mehrerer Tage vor ihn gelassen. Diese Frist benutzten seine Vertrauten, um auf jede erdenkliche Weise, mit einem Aufgebote außerordentlicher Schlauheit und Verschlagenheit die Art ihres Anliegens, ihre Verhältnisse und Wünsche zu erkundschaften.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der neue Skating-Rink in Berlin. (Mit Abbildung Seite 452 und 453.) Seit dem ersten Mai dieses Jahres bietet die jüngste Weltstadt ein neues, interessantes Schauspiel, den sogenannten Skating-Rink im „Hofjäger“, wo sich in den Nachmittagsstunden und besonders des Abends die exclusive Gesellschaft versammelt, um im Sommer – Schlittschuh zu laufen. Dieses eigenthümliche Vergnügen ist eine englische Erfindung und verdankt seine Einführung einer Gesellschaft, an deren Spitze die Herren Campbell, Gow und Compagnie stehen. Die erste Anregung zu diesem neuen Sport hat wahrscheinlich der berühmte Meyerbeer durch seinen „Propheten“ gegeben, in dem bekanntlich das Ballet auf den Brettern der Bühne Schlittschuh läuft. Seitdem hat jedoch der ingeniöse Gedanke des großen Musikers oder seines Mitarbeiters Scribe wesentliche Verbesserungen erfahren. Statt der Bretter erblicken wir hier eine Bahn aus „Patent-Eis“, einer Mischung von Portland-Cement, Marmorstaub und verschiedenen chemischen Substanzen, welche eine glatte, feste und zugleich elastische Fläche im Umfange von tausendfünfhundert Quadratmeter darstellt. Die zum Laufen benutzten Schlittschuhe sind nach dem System Plimpton gearbeitet und bestehen aus einundzwanzig verschiedenen Theilen. Die eigentliche Bewegung wird durch vier Räder von Buchsbaumholz und durch eine höchst sinnreich eingerichtete elastische Gummifeder bewerkstelligt, welche dem leisesten Drucke nachgiebt und jede beliebige Wendung nach vorwärts, rückwärts und zur Seite gestattet. Rings um die Bahn, welche zum Theile gedeckt und gegen den Regen geschützt ist, zieht sich eine elegante Balustrade für die zahlreichen Zuschauer. Zwei reizende Toilettenzimmer dienen zum An- und Auskleiden für die männlichen und weiblichen Besucher des Skating-Rink, und mehrere zierliche Pavillons, welche Herr Hofbaurath Klingenberg errichtet hat, enthalten eine ausgezeichnete Conditorei und das Buffet für erfrischende Getränke. Die ganze Anlage macht, besonders des Abends bei brillanter Beleuchtung und zu den Klängen der Musik, einen wirklich feenhaften Eindruck.

Wie der ehemalige Leibarzt des Prinzen Albert von England, Sir William Hull, versichert, soll es kein besseres Mittel gegen Bleichsucht, Herzklopfen und Nervenleiden aller Art geben, als die Bewegung des Skating-Rink. Aus diesem Grunde findet der neue Sport besonders zahlreiche Liebhaber und Theilnehmer unter den höheren Ständen, welche zur Förderung des Unternehmens einen eigenen Club unter dem Vorsitze des Herzogs von Ratibor gebildet haben. Der Jahresbeitrag der Mitglieder beträgt für eine Familie sechszig, für die einzelne Person dreißig Mark. Vorläufig zeigt der Skating-Rink noch einen vorwiegend aristokratischen Charakter, obgleich das bürgerliche Element keineswegs ausgeschlossen ist. Zu den eifrigsten Freunden und Gönnern desselben zählen der Herzog Wilhelm und der Erbgroßherzog von Mecklenburg, die beiden Prinzen Reuß, Prinz Hohenzollern und Hatzfeld, die Grafen von Hohenau, Maltzahn und Einsiedel, Herr von Prillwitz, Gräfin Perponcher, Frau d’Arassof etc. Ganz besonders aber interessirt sich die diplomatische Welt für dieses Vergnügen: mit Lord Russell wetteifern der österreichische und französische Botschafter, der portugiesische, schwedische, dänische und nordamerikanische Gesandte in der edlen Kunst, auf glatter Bahn ohne Anstoß dahinzugleiten. Selbst der türkische Gesandte verschmäht es nicht, trotz seiner vielfachen Sorgen hier ein Stündchen mit seinen Collegen harmlos zu verleben und die orientalische Frage zu – verlaufen. Jedenfalls ist der Skating-Rink im Vergleiche mit anderen diplomatischen Spielen eine höchst unschuldige und angenehme Unterhaltung, wobei ein Fehltritt und selbst ein kleiner Fall weder für den Stürzenden noch für die betreffenden Regierungen schädliche Folgen nach sich zieht. Auch für junge, hoffnungsvolle Streber empfiehlt sich dieser Sport als eine Vorschule der Geschmeidigkeit und elastischer Nachgiebigkeit, weshalb auch der Skating-Rink sich eines zahlreichen Besuches von angehenden Staatsmännern erfreut. Dagegen hält sich die Börse, welche doch sonst mit der Aristokratie gern gemeinsame Sache macht, von dem harmlosen Vergnügen fern. Außer dem Herrn von Bleichröder und Karl Egells macht sich unter den Mitgliedern des Prince-Club kein Vertreter der hohen Finanz und der Industrie bemerkbar. „Wozu,“ sagte ein geistreicher Banquier, „braucht man einen Skating-Rink? Die Börse selbst ist eine Eisbahn, auf der man mit der größten Schnelligkeit herauf- und hinunterfallen kann.“

Trotz des absprechenden Urtheils dieses vorsichtigen Herrn genießt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_458.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)