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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


zu nationaler Selbstständigkeit geschaffen. Fortan kämpften die Vereinigten Staaten unter eigenem Banner einen Krieg auf Leben und Tod gegen England. Nicht mehr hinter ihnen lag ein unmöglich gewordenes gemüthliches Glück; nur vor ihnen zeigte sich das Heil, aber für die nächste Zukunft drohten ihnen schwere Sorgen und Niederlagen. Deshalb ward männliche Aufbietung aller Kräfte für den Sieg und die Freiheit geboten, welche nach siebenjährigem Kampfe endlich errungen wurden.

So ist denn auch der Tag der Annahme der Unabhängigkeitserklärung dem voraufgegangenen und gegenwärtigen Geschlechte der vornehmste und sichtbarste Markstein im Uebergange des Landes zu seiner Selbstständigkeit; so gilt er ihm als der Geburtstag des amerikanischen Volkes und darum feiert dieses ihn heute bei seiner hundertjährigen Wiederkehr als seinen höchsten Jubel- und Ehrentag: Es hat volle Ursache, ihn stolz zu feiern, trotz der großen Schatten, welche die heutige Festtagsstimmung nur zu sehr verdüstern.

Ich bin natürlich weit entfernt davon, diese Schäden irgendwie verschweigen oder beschönigen zu wollen. Ich habe vielmehr zu einer Zeit, wo es in den Augen des biedern gesinnungstüchtigen, namentlich deutsch-amerikanischen Bürgers als antirepublikanisch und servil galt, die unausbleiblichen und verderblichen Folgen nachgewiesen, welche aus der Corruption der herrschenden politischen Kreise und dem schnöden Aemterschacher hervorgehen mußten. Wenn ich mich gleichwohl der neumodischen sittlichen Entrüstung über den bevorstehenden Untergang des amerikanischen Volkes nicht anschließen kann, so glaube ich deshalb klarer zu sehen und billiger zu urtheilen, weil ich nicht den beschämenden Eindruck einer kurzen Spanne Zeit als maßgebend für eine hundertjährige Geschichte erachte, weil ich nicht eine einzige Seite aus dem vollen Leben des Volkes herausgreife, sondern Volk und Land im Spiegel seiner Gesammtleistung und seiner vollen geschichtlichen Entwicklung betrachte.

Es ist wahr, die in den letzten Jahren zu Tage getretene Verderbniß in den politischen Kreisen giebt zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß, immerhin aber ist sie im Verhältnisse zu dem großen Ganzen doch nur ein böser Aussatz an einem sonst kräftigen Körper, welcher bei gehöriger Pflege und besserer Behandlung leicht wieder genesen kann. In den denkenden Kreisen beginnt bereits die Einsicht zu tagen, daß es ein Verbrechen an der Nation war, die ganze Regierung und Verwaltung des Landes zu einer Maschine für die Vertheilung der Aemter zu machen und diese den Gesetzgebern als willenlose Beute zu überantworten. Hier liegt der eigentliche Sitz des Uebels. Sobald erst der gegenwärtige Unfug abgestellt, sobald also mit den inneren Ursachen der heutigen Corruption gebrochen und der normale Zustand der Verwaltung europäischer Länder, z. B. Deutschlands, in den Vereinigten Staaten eingeführt ist, werden hier die Politiker von der Bühne verschwinden und an ihre Stelle tüchtige Beamte und wieder hervorragende Staatsmänner treten. Von ihrer Gründung an bis auf Jackson, welcher bekanntlich die Beutetheorie zur Grundlage seines demagogischen Systems erhob, hatte die Union vortreffliche Beamte und Staatsmänner ersten Ranges, welche letzteren die meisten ihrer europäischen Genossen um eines Hauptes Länge überragten. Jetzt ist sie überraschend arm an beiden, weil eben die Politik in ein gemeines Geschäft ausgeartet ist, vor welchem sich fast das ganze Talent der Bürger in’s Privat- und Geschäftsleben zurückgezogen hat. Hier also muß die Reform ansetzen und hier wird sie hoffentlich ansetzen, um das Land von dem auf ihm lastenden Fluche zu befreien.

Im Uebrigen steht der sittliche Werth des Volkes ebenso hoch wie derjenige der großen europäischen Nationen, in einigen Eigenschaften, z. B. männlicher Thatkraft, vielleicht sogar höher, wenn in anderen auch, z. B. moralischem Muthe, niedriger. Daß aber die Amerikaner eines der leitenden Culturvölker sind, ohne welche man sich die moderne Entwicklung gar nicht mehr denken kann, wird so leicht Niemand bestreiten. Wer innerhalb eines einzigen Jahrhunderts in ungestümem Siegeslaufe einen ganzen Continent der Cultur erobert und seine Eisenschienen und elektrischen Drähte vom atlantischen zum stillen Weltmeere legt, wer diese Großthaten nicht auf Geheiß eines fremden Willens, sondern im Geiste des rastlosesten Fortschrittes, im freien Wetteifer der in allen Volksschichten entfesselten, auch aus Europa massenhaft herbeigeeilten Arbeit vollbringt, der giebt gerade durch seinen nie ruhenden und nie befriedigten Thätigkeitstrieb die sicherste Bürgschaft dafür, daß er, wenn auch sein gewaltiger Thatendrang und sein ungebändigtes Streben wohl ausarten mag, sich am Ende doch selbst wiederfindet und selbst regulirt. Was wollen diesen bewußten und unbewußten Triumphen der menschlichen Arbeit und Thatkraft gegenüber einige Hundert schlechter Beamten, ja selbst einige Jahrzehnte städtischer und staatlicher Corruption sagen!

Im ersten Jahrhundert seines Bestehens hat das neue Reich des Friedens und der Arbeit den Boden gewonnen und nach außen hin abgesteckt, welchen es nunmehr in seinem zweiten Jahrhundert im Innern auszubauen und geistig zu erweitern hat. Hoffentlich wird es die äußere Unabhängigkeit in allmählichen, aber sicheren Uebergängen zur höhern Freiheit des Geistes, zur höchsten Gesittung und Schönheit führen. Armuth und Abhängigkeit lassen in der Gesellschaft so wenig wie im Einzelnen fröhliches Behagen des Daseins und frisches Erfassen höherer Culturzwecke aufkommen. Wirthschaftliches Gedeihen und bürgerlicher Wohlstand, die unumgänglich nothwendigen Bedingungen für jeden Fortschritt, sind darum auch die stolzeste Errungenschaft, das kostbarste Besitzthum der Vereinigten Staaten.

Was Faust, am Ende seines Ringens und Strebens angelangt, als das höchstmögliche Glück erkennt und als der Weisheit letzten Schluß preist:

„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß –“

das ist auf amerikanischem Boden in viel höherem Grade als anderswo zur täglichen Praxis des Volkes geworden. Um im eigenen und der ganzen Menschheit Interesse diese menschlichste Lösung der Faust-Idee immer vollständiger zu verwirklichen, müssen Pflichtgefühl und Arbeit die Genien des Gemeinwesens bleiben, muß nicht der Buchstabe, sondern der Geist des vierten Juli die Gesinnung jedes Bürgers der großen Republik durchdringen. In diesem Sinne aber sei am heutigen glorreichen Tage den Anglo- und Deutsch-Amerikanern ein herzlicher Gruß über das Meer entboten!




Ein geistiger Vorläufer des Columbus.
Kultur- und Lebensbild.

Eine Meile nordöstlich von der unterfränkischen Mainstadt Haßfurt liegt am Fuße seines Schloßberges mit der Ruine der Veste Königsberg das Städtchen gleichen Namens, und weil es noch mehrere Königsberge giebt, Städte und Dörfer, in Preußen, in der Neumark, in Oberhessen, in Böhmen, Tirol, österreichisch Schlesien und Ungarn, so heißt diese kleine sachsen-coburg-gothaische Stadt mitten im baierischen Gebiete Königsberg in Franken. In der sogenannten Schloßgasse daselbst, die zum Amthaus und zur Burgruine hinaufführt, steht rechter Hand und zwischen Gebäuden späterer Zeit ein uraltes Haus, dessen ergrautes Holzgebälk oberhalb des Einfahrtsthores mit allerlei Schnitzwerk verziert ist; auch der fromme Spruch steht daran: An Gottes Segen ist Alles gelegen. Es ist fast ein Wunder zu nennen, daß gerade dieses Haus der Zerstörung der Jahrhunderte und sogar des dreißigjährigen Krieges entgangen ist, dieses Haus, das nicht blos für die kleine Stadt, sondern für die ganze Welt eine so große Bedeutung hat. In diesem alten Hause wurde vor nun gerade vierhundertundvierzig Jahren am sechsten Juni ein Knabe geboren, aus welchem ein Mann wurde, der sich als großer Beförderer der griechischen Sprache und Literatur in Deutschland, als Beförderer der Mathematik, der Mechanik und der Astronomie einen Weltruf, insbesondere aber durch Bearbeitung und Herausgabe des ersten deutschen Kalenders und durch die Entwickelung der nautischen Astronomie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_468.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)