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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Die Chassidim behaupteten, Engel hätten ihn befreit und entführt; die anderen Leute waren der Ansicht, die Engel wären aus Gold und Silber und hübsch geprägt gewesen. Einerlei, er war der russischen Justiz entrückt und tauchte ein paar Monate nach seinem Verschwinden in dem Ursprungslande seiner Secte, in der Bukowina, auf. Er schlug in Sadagóra seinen Sitz auf, und die vielen tausend Pilger, die früher nach Rizin gingen, wallfahrteten jetzt nach Sadagóra. Als er 1850 starb, übernahm der älteste seiner Söhne, Abraham Jakob, das sehr heilige und höchst rentable Amt eines wundermächtigen Gottesmannes.

Ihm stand ich nun in dem kleinen, geschmackvoll ausgestatteten Empfangssalon gegenüber.

Der Rabbi saß an einem Tischchen; bei meinem Eintreten erhob er sich und ging mir einige Schritte entgegen.

Er ist ein schmächtiges Männchen. Sein etwas schmales, marmorblasses Gesicht ist edel geschnitten. Ein langer, silberheller, doppelspitzer Bart und weiße, kurze, geringelte Schläfenlocken umrahmen es. Die dunklen Augen blicken halbverschleiert und ausdruckslos kühl unter den schön gezeichneten weißen Brauen. Kein Lächeln umspielt die schmalen, blutlosen Lippen, und die hohe, von blauen Aederchen durchschimmerte Stirn ist furchenlos. Ein mattseidener Kaftan umkleidete enganliegend den Leib; das Haupt deckte eine hohe, spitze, schwarzsammtene „Jarmerke“ (Hauskäppchen). Die Nettigkeit und Sauberkeit seines Aeußeren stach wohlthuend gegen den Schmutz und die unordentliche Nachlässigkeit der anderen polnischen Juden ab. Er ging mir hochaufgerichtet, in fast militärischer Haltung, festen Schrittes entgegen, reichte mir zu flüchtiger Berührung seine schmale, weiße Hand und deutete, indem er seinen Sitz wieder einnahm, auf einen Stuhl, der diesem gegenüber stand.

„Sie und zu den Festen nach Czernowitz gekommen?“ sprach er mich eintönigen, schleppenden Tones mit leiser Stimme an, in richtiger deutscher Aussprache, die nur wenig durch jüdisch-polnische Dialect- und Accentanklänge verundeutlicht wurde. „Ich habe gehört,“ fuhr er dann fort, „daß dort eine Universität eröffnet wird; wird auch eine Akademie für Medicin dabei sein?“

„Anfangs nicht.“

„Das ist schade; unsere Leute werden daher trotz der Universität zum Professor nach Lemberg oder Wien fahren müssen, wenn sie krank sind.“

Er sann eine Weile nach, dann fuhr er fort: „Ist es wahr, daß bei dieser Feier der Chor in der griechischen Kirche ganz aus Juden und Jüdinnen bestehen wird?“

„Nicht ganz, aber zu zwei Dritttheilen.“

„Das sollt’ nicht sein.“

Er sah starr vor sich hin. Dann winkte er. Zwei Gaboim standen kerzengerade an der Thür, wohlerzogene Diener, achtsam auf die Winke ihres Herrn, aber taub und blind für Alles, was in ihrer Gegenwart vorgeht. Auf den Wink des Rabbi entfernten sie sich und erschienen bald wieder mit einer großen silbernen Platte, auf der ein Gläschen goldig funkelnden süßen Weines und ein Teller mit Schnitten stark gezuckerten flaumigen Kuchens standen. Der Rabbi lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, vom Gasttrunk zu nippen.

„Rabbi,“ sprach ich ihn dann an, „macht es mir klar, weshalb so viele Tausende Euch so inbrünstige Verehrung zollen!“

Er zuckte leicht die Achseln und schwieg. Ich fuhr fort:

„Die Kraft Ihres Gebetes muß eine außerordentliche sein. Man erzählt zahllose Wunder, die Sie durch dasselbe wirkten.“

„Wem Gott helfen will, dem hilft er,“ erwiderte er lakonisch.

„Man sagt, Sie stammen von David ab und der Messias solle aus Ihrer Familie hervorgehen.“

„Die Leute sagen es; ich weiß es nicht.“

Ich hatte mich bemüht, ihm verfängliche Fragen zu stellen; er entschlüpfte ihnen aalglatt mit wohldurchdachten Phrasen, die ihn an der ganzen religiösen Verirrung, deren Mittelpunkt und Träger er ist, als vollkommen unschuldig darstellen sollten. Das beweist aber klar, daß er durchaus kein Fanatiker oder Schwärmer ist, der selbst an seine Heiligkeit oder Wundermacht glaubt, sondern ein vorsichtiger Betrüger, der die Dummheit und den Wahn der Menge auszubeuten weiß. Ich sann einen Augenblick nach, während ein überlegen-spöttisches Lächeln den Mund des Rabbi umspielte, und entschloß mich, mit rohem Finger eine verwundbare Stelle dieses unerregbaren Gemüthes zu berühren. Ein jüngerer Bruder dieses Gottesmannes residirte gleichfalls als Zadik in Leviada in der Moldau. Irgend ein Ungefähr spielte ihm die Satiren des Dr. Isaak Erter gegen den Chassidismus in die Hände. Die Lectüre dieser Schriften machte ihm die Schmach der Rolle klar, die er spielte. Von edler Regung erfaßt, verkündete er muthvoll seinen Abfall vom Chassidismus und enthüllte in flammenden Worten die Charlatanerie, deren Opfer die Verehrer seiner Familie geworden. Wäre die Masse dieser Verehrer nicht eine stupide Horde, sein Auftreten hätte die heilsamsten Folgen haben müssen und jene abscheuliche Mißreligion, deren Begründer Dob Beer gewesen, hätte ein Jahrhundert später durch seinen Urenkel, der den gleichen Namen führte – der Rabbi von Leviada hieß auch Dob Beer – eine heilsame Reform und Reinigung erfahren. Aber sein muthiges Auftreten machte ihn blos zum Gegenstand frommer Trauer für die einen, die den Gottesmann in die Gewalt des Bösen gerathen wähnten, der erbitterten Verfolgung für die anderen, deren fanatischem Zelotismus sein Abfall in die Quere kam. Um dieser sich für ihn immer bedrohlicher gestaltenden Verfolgung zu entrinnen, faßte er den Entschluß, Christ zu werden. Die Ausführung dieses Entschlusses hätte auf das Ansehen seiner Familie die verhängnißvollste Rückwirkung ausüben müssen. Der Rabbi von Sadagóra vereitelte sie; er ließ durch seine „Meschorßim“ seinen Bruder bei Nacht und Nebel entführen und in einem seiner Häuser in Sadagóra ihn in strenger Haft halten. Die Sache gelangte zur Kenntniß der Gerichte in Czernowitz. Mit bewaffneter Macht wurde der Gefangene befreit und in Czernowitz unter Polizeibewachung gestellt. Gegen seinen Bruder wurde die Untersuchung wegen „Menschenraub“ eingeleitet. Sie wurden dann aus unbekannten Gründen niedergeschlagen. Dob Beer schwor seinen Abfall ab, that Buße und lebt jetzt in stiller Zurückgezogenheit in Sadagóa. Welche geheime Umtriebe und dunkle Mittel diesen kläglichen Ausgang der Affaire herbeiführten, wird wohl niemals ganz klar werden. Das alles trug sich im Jahre 1868 zu; auf diese Vorgänge spielte ich an, indem ich an den Rabbi die Bemerkung richtete:

„Man hat mir erzählt, daß einer Ihrer Brüder sich hat taufen lassen wollen.“

„Gott behüte,“ antwortete er mit dem bisherigen Phlegma, „die Leute erzählen so viel über uns, und so wenig ist daran wahr. Mein Bruder hat nur seinem Stande entsagt, er ist aber Jude geblieben.“

Er lenkte dann das Gespräch auf den Vorhang im Betsaal und ließ ein in massives Silber gebundenes Bibelmanuscript auf Pergament, mit hübschen Miniaturen geschmückt, bringen, um es von mir bewundern zu lassen. Sein Neffe und Schwiegersohn, der Nachfolger im Rabbinat von Sadagóra, war in Begleitung von zwei Gaboim eingetreten. Er ist ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren und bereits gleichfalls ein Gegenstand frommer Verehrung. In Physiognomie, Gestalt, Haltung und Kleidung ist er dem Rabbi sehr ähnlich. Auch sein Blick ist halbverschleiert und kühl, auch seine Haut ist von durchsichtiger Weiße, nur färbt seine Wangen, die ein kleiner kastanienbrauner, spitzer Bart umrahmt, zartes, rosiges Incarnat. Man erzählt sich in Czernowitz Wunderdinge von der Pracht, mit der seine Vermählung gefeiert wurde. Von weit und breit war man nach Sadagóra geströmt, um den Hochzeitszug zu sehen; für fabelhaft hohe Preise wurden Fenster in den Gassen, die er passiren sollte, gemiethet. Die Braut fuhr in einem mit himmelblauem Atlas ausgeschlagenen reichvergoldeten Prunkwagen, der Bräutigam in einem gleichen, der mit rothem Sammet ausgeschlagen war. Den Wagen der Braut zogen vier Schimmel, den des Bräutigams vier Rappen. Fünfzig „Meschorßim“ des Rabbi in goldstrotzendem Tscherkessencostüm umgaben hoch zu Roß die beiden Wagen, welchen ein langer Zug Equipagen folgte. Pferde und Wagen stammten aus dem Marstall und den Remisen des Rabbi, die fürstlich reich bestellt sein sollen.

Das Gespräch drehte sich um das Alter des Manuscriptes, welches mir gezeigt worden war. Es wurde der Hausgelehrte des Rabbi, ein Herr Leibisch, geholt, der mit einiger Mühe herausfand, daß es im Jahre 5012 „nach Erschaffung der Welt“ geschrieben worden sei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_474.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)