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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 30.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Einige Wochen waren vergangen. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und in Altenhof hatte man vollauf mit der Ernte zu thun. Der Gutsherr, der den ganzen Vormittag auf den Feldern gewesen war, um überall nachzusehen und anzuordnen, war müde und matt nach Hause gekommen und gedachte jetzt, nach dem Essen, sich der wohlverdienten Mittagsruhe hinzugeben. Während er aber die Anstalten dazu machte, blickte er mit einem Gemisch von Aerger und Verwunderung auf seinen Pflegesohn, der in seinem gewöhnlichen Reitanzuge am Fenster stand und auf das Vorführen seines Pferdes wartete.

„Also Du willst wirklich in der Mittagshitze nach C. hinüber?“ sagte Herr Witold. „Ich gratulire Dir zu dem zweistündigen schattenlosen Wege. Du wirst den Sonnenstich bekommen, aber Du scheinst gar nicht mehr leben zu können, wenn Du Deiner Frau Mutter nicht mindestens drei- oder viermal in der Woche die Aufwartung machst.“

Der junge Mann runzelte die Stirn. „Ich kann der Mutter doch nicht Nein sagen, wenn sie mich zu sehen wünscht. Jetzt, wo wir uns so nahe sind, hat sie am Ende das Recht, zu verlangen, daß ich sie öfter besuche.“

„Nun, sie macht auch einen tüchtigen Gebrauch davon,“ meinte Witold. „Wissen möchte ich aber doch, wie sie es angefangen hat, Dich zum gehorsamen Sohn zu machen. Ich habe das fast zwanzig Jahre lang umsonst versucht; sie brachte es in einem einzigen Tage fertig. Freilich, das Regieren verstand sie von jeher aus dem Grunde.“

„Du weißt doch am besten, Onkel, daß ich mich nicht regieren lasse,“ versetzte Waldemar in gereiztem Tone. „Die Mutter ist mir mit einer Versöhnlichkeit entgegengekommen, die ich nicht so schroff zurückweisen kann und will, wie Du es thatest, so lange ich noch unter Deiner Vormundschaft stand –“

„Es wird Dir wohl recht oft da drüben gesagt, daß Du nicht mehr darunter stehst?“ unterbrach ihn der Pflegevater. „Du betonst das merkwürdig oft seit den letzten Wochen. Das ist übrigens ganz und gar unnöthig, mein Junge. Du hast leider von jeher immer nur gethan, was Du selbst gewollt hast, hast es oft genug gegen meinen Willen gethan. Deine Mündigkeitserklärung ist eine reine Form, das heißt für mich, nicht für die Baratowski. Die werden schon wissen, was sie damit anzufangen haben und weshalb sie Dich fortwährend daran erinnern.“

„Wozu die ewigen Verdächtigungen!“ brauste Waldemar auf. „Soll ich auf jeden Umgang mit meinen Verwandten verzichten, einzig deshalb, weil Du ihnen feind bist?“

„Ich wollte, Du könntest die Zärtlichkeit Deiner lieben Verwandten einmal auf die Probe stellen,“ spottete Witold. „Sie kümmerten sich nicht so viel um Dich, wenn Du nicht zufälliger Weise der Herr von Wilicza wärest. – Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Wir haben uns in der letzten Zeit so oft über die Geschichte gezankt, daß ich mir heute nicht wieder den Mittagsschlaf dadurch verderben will. Dieser verwünschte Badeaufenthalt wird ja wohl auch ein Ende nehmen, und dann sind wir die ganze Gesellschaft los.“

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Waldemar ging ungeduldig im Zimmer auf und nieder.

„Ich weiß nicht, was sie drüben in den Ställen machen. Ich habe Befehl gegeben, den Normann zu satteln, aber der Stallknecht scheint dabei eingeschlafen zu sein.“

„Du hast wohl wieder einmal gewaltige Eile, fortzukommen?“ fragte der Gutsherr trocken. „Ich glaube wahrhaftig, sie haben Dir in C. einen Hexentrank eingegeben, daß Du nirgends anderswo mehr Ruhe hast. Du kannst jetzt nie die Zeit erwarten, bist Du erst im Sattel sitzest.“

Waldemar gab keine Antwort; er pfiff vor sich hin und schlug mit der Reitgerte in die Luft.

„Die Fürstin geht doch hoffentlich wieder nach Paris zurück?“ fragte Witold auf einmal.

„Das weiß ich nicht. Es ist noch nicht beschlossen, wo Leo seine Studien vollenden soll. Die Mutter wird sich wahrscheinlich durch die Rücksicht auf ihn in ihrem künftigen Aufenthalt bestimmen lassen.“

„Ich wollte, er studirte in Constantinopel,“ sprach Herr Witold ärgerlich, „und seine Frau Mutter ließe sich aus Rücksicht für ihn bestimmen, auch mit in’s Türkenland zu gehen, dann kämen sie wenigstens sobald nicht wieder. Dieser junge Baratowski muß ja übrigens ein wahres Ungeheuer von Gelehrsamkeit werden. Du sprichst fortwährend von seinen ‚Studien‘.“

„Leo hat auch viel mehr gelernt als ich,“ sagte Waldemar grollend, „und er ist doch volle vier Jahre jünger.“

„Seine Mutter wird ihn wohl tüchtig zum Lernen angehalten haben. Der hat sicher nur einen einzigen Hofmeister gehabt, während Dir sechs davon gelaufen sind und der siebente nur mit Noth und Mühe bei Dir aushält.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_497.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)