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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Behendigkeit jenes gegenüber ihn stets zu dem Geständniß zwang: „bald lag er oben, bald lag ich unten.“

Hatte er sich hier sattsam getummelt, so suchte er rückwärts zu entkommen, doch gelang dies selten ohne mannigfache Niederlagen, da Mohr die Absicht schon im Entstehen bemerkte. Nun machte er meinem Nachbar Pechuel-Loesche seine Aufwartung, erholte sich ein Weilchen auf einem Stuhle, sich der Länge lang unaufgefordert ausstreckend, und begann dann immer von Neuem den Inhalt der Blechkästen, die er zu öffnen verstand, zu durchmustern. Er ruhte nicht eher, bis der Boden erreicht war, und thürmte alles rund um sich auf, die Haltbarkeit der einzelnen Gegenstände mit den Zähnen prüfend. Endlich bewies mir ein durch die Loango-Wand[1] zu mir dringendes kräftiges Wörtlein, daß die kindlichen Spiele entdeckt seien, und M-pungu’s Eile, in den Garten zu kommen, zeigte seinerseits das Bewußtsein, Strafe verdient zu haben. Er glaubte sich auch nicht eher in Sicherheit, bis er das schützende Dickicht der zwölf und mehr Fuß hohen Negerhirse und des Maises erreicht hatte. Zufrieden, auf kurze Zeit der Aufsicht enthoben zu sein, ließen wir ihn in den Plantagen, wenn auch das Rauschen und Brechen und die sich zur Erde biegenden Halme keinen segensreichen Einfluß auf das Gedeihen der Pflanzen bekundeten. Hatte er dann Blätter und Blumen durchsucht, hier und da ein wenig genascht und namentlich die eben hervorsprossenden Bananenblätter gepflückt, so fiel ihm plötzlich ein, daß im Eßzimmer sich wohl Niemand befinden werde und es sich daher lohnen dürfe, nach dem Zucker- und Fruchtschrank zu sehen. Sich vor allem über unseren und unserer kleinen schwarzen Dienerschaft Aufenthalt orientirend, vorsichtig auslugend, um die Ecken der Hütten schauend, steuerte er endlich direct auf sein Ziel los und entfloh, wenn auf der That ertappt, zwar bittende Töne ausstoßend, aber gewiß nie, ohne mit sicherem Griffe die Beute in beiden Händen mit fort zu führen.

Ein durchtriebener Schalk, überlistete er jeden Versuch, ihn in besonnene Bahnen zu lenken oder ihm Begriffe des Unerlaubten beizubringen. Einschmeichelnd, um etwas zu erlangen, schmollend, wenn ihm etwas versagt wurde, aufmerksam beobachtend, was er nie gesehen, neugierig untersuchend, was ihm unverständlich, tapfer angreifend, wo keine Gefahr, behutsam retirirend, wenn Vorsicht rathsam, war er ein Unterhalter und Genosse, wie man keinen besseren wünschen konnte. Wie ein übermüthiges Kind trieb er sich frei auf dem Gehöft umher, immer bedacht, seinen Pflegern nahe zu bleiben, und wenn er sie aus den Augen verlor oder nicht am gewohnten Platze arbeitend fand, so suchte er, erst ängstlich bittend, dann in lautes Kreischen ausbrechend, eifrig an allen Orten und umklammerte den Gefundenen so fest am Bein, als wolle er ihn nimmer wieder loslassen, oder langte bittend mit den Armen empor, um geliebkost zu werden.

Bei gesunder Bewegung und völlig menschlicher Kost nahm er an Stärke, Gewicht und Lebendigkeit dauernd so zu, daß wir bei unserer Einschiffung am 5. Mai dem Capitain des Dampfers „Loanda“, Mr. Clancy, zuversichtlich vorhersagen konnten, der M-pungu würde gesund und kräftig Europa erreichen, wenn er ihm seine Nachsicht und Fürsorge angedeihen lassen würde. M-pungu hat Europa erreicht mit einer Lebenskraft und Fülle, welche die kühnsten Hoffnungen bei Weitem übertrafen. Aber in wie freundlicher Weise hat nicht Capitain Clancy seine Aufgabe erfüllt, wie selbstlos hat er sich und sein Quarterdeck geopfert! Er ließ M-pungu zum ersten Cajüten-Passagier avanciren, lauschte auf alle seine Wünsche, ganz gleich, ob sie sich auf ein starkes Tau zu Turnübungen oder auf ein Flaggentuch zum Schutz gegen eine Nordbriese richteten. Irgend bewegliche schwere Gegenstände, die durch Fall Gefahr drohten, ließ er fest binden oder schrauben; Quarter-Masters, Stewards und Küchenjungen mußten in gleicher Weise des Winkes M-pungu’s gewärtig sein. Zum Diner durfte er im Salon erscheinen, und als ob er sich des höchsten Schutzes bewußt wäre, trieb er seine Possen um so toller, je größere Freiheit ihm gestattet wurde. Aber Niemand war ihm gram deswegen; Jedermann verzog und liebkoste ihn, ja, ein kleines englisches Kind trieb seine Zärtlichkeit so weit, ihn, mit den Händen nach ihm langend, Papa zu tituliren. Die ganze Reise glich einem Triumphzuge; an allen Küstenplätzen strömten die Neger in Canoes herzu, um ihren Bruder, wie er scherzweise genannt wurde, in Augenschein zu nehmen. Die Rückkehrenden brachten die Nachricht von dem Gesehenen an’s Land, und immer neue Canoes sah man abstoßen, das Wunder zu schauen. M-pungu nahm die Huldigungen als selbstverständlich hin. Weit entfernt, sich genirt zu fühlen, gab er unaufgefordert die besten Vorstellungen, wenn die meisten Gäste versammelt waren.

Wie wohl thaten uns die Ausrufe, ungeheuchelten Erstaunens, wie angenehm berührte uns das mit der nahenden Heimath wachsende Interesse des Publicums! Aber je näher wir England kamen, um so ängstlicher hüteten wir auch den Schatz in unseren Händen; er gehörte eigentlich schon längst nicht mehr uns, sondern wir gehörten ihm. – Endlich am 29. Juni wurde Liverpool und damit der Glanzpunkt in M-pungu’s bisherigem Leben erreicht. Die ganze ungeheure Stadt war in Aufregung. Unter den Fenstern unseres Hotels wogten schwarze Massen auf und ab, während die besser Situirten, darunter die Spitzen der Stadt und die ersten Gelehrten, uns persönlich ihre Aufwartung machten und der greise Darwin brieflich seinen Glückwunsch übermittelte.

Auf die Bitte des Curators des Museums, Mr. Moore, stellten M-pungu einem seiner Vorfahren, einem alten ausgestopften Gorilla, vor, da möglicher Weise eine höchst interessante Erkennungsscene erwartet werden konnte. Er ließ aber uns und den Alten in komischer Enttäuschung stehen, mit dem Zeigefinger Ohren und Nase eines jungen Chimpanse befühlend, als wollte er sagen: „Wie kann man mich mit dir verwechseln!“

Etwas ermüdet, aber stolz auf unsern Schatz, verließen wir die Stadt und vertrauten M-pungu wenige Tage später den wohlbewährten Händen des Dr. Hermes an. Möge es ihm gelingen, M-pungu so lange am Leben zu erhalten, bis die Behauptung der Neger geprüft werden kann, welche erzählen, daß alte Gorillas ganz weiß behaart seien.[2]




„Der Kaiser und der Abt“.
Zur Geschichte der Bürger’schen Ballade.


Schon ehe Herder mit seinen „Stimmen der Völker“ dem deutschen Publicum die Quellen nationaler Volkspoesie vermittelte, hatte G. A. Bürger mehrere der in Percy’s „Reliques of ancient English Poetry“ enthaltenen Schätze altenglischer und schottischer Balladen künstlerisch zu verwerthen gewußt. Die schottische Ballade von „Sweet William’s Ghost“, welche ihm die Anregung zu seiner „Lenore“ gab, ist seit Herder’s Uebersetzung ziemlich bekannt geworden, und die Kenntniß dieser dürftigen Quelle muß unsere Bewunderung für die schöpferische Kraft des deutschen Dichters noch steigern. Auch für andere Bürger’sche Dichtungen, wie „Frau Schnips“ und „Die Entführung“, haben wir die Quellen in jener englischen Balladensammlung zu suchen, und in diesen ist er seinen Vorbildern mehr gefolgt, als in seiner „Lenore“. Die auffallendste Treue aber in der Nachbildung des gegebenen Stoffes zeigt uns dasjenige von Bürger’s Gedichten, welches wohl nächst „Lenore“ als das populärste bezeichnet werden kann, nämlich seine schnurrige Geschichte vom Kaiser und Abt. Sie stimmt mit der englischen Ballade „König Johann und der Abt von Canterbury“ nicht nur im Inhalte Zug für Zug, sondern selbst in der metrischen Form überein. Der Anfang des englischen Originals lautet[WS 1] in möglichst treuer Uebersetzung:

Ein altes Märchen jetzt künd’ ich euch an:
War ein stattlicher Fürst, genannt König Johann;
Er herrschte in England allmächtig und schlecht,
That Unrecht gar viel und versäumte manch’ Recht.

Und ich will euch erzählen ein Märchen, so lustig, etc. etc.

Hier, im Anfang der zweiten Strophe, ist Bürger, der jedoch

  1. Loango-Gras, Cyperus papyrus.
  2. Eine am 13. December 1875 vorgenommene Messung ergab: Ganze Länge 56 Centimeter; Gewicht 15 Pfund; Respiration 40 bis 46 in der Minute; Puls 116; Temperatur 38,6 Grad C. Am 28. Juni dagegen: Ganze Länge 69 Centimeter; Rumpflänge 47 Centimeter; Gewicht 31 Pfund; Respiration 24 bis 32 in der Minute; Puls 108; Temperatur 37,7 Grad C.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: lautes
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_558.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)