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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


nach der Nähe des alten Freundes und sandte einen sichern Boten, mit einem Schreiben, das die Bitte um seinen Rath und sein Gebet für meinen armen Sohn enthielt. Gestern konnte mein Sendbote zurückgekehrt sein; ich erwartete ihn vergebens und gab endlich dem Drängen meines Secretärs nach, Dich holen zu dürfen, aber als ich vorhin an dem Krankenbette mit Dir stand und Dein unseliges Schweigen mir meines Kindes Todesurtheil verkündete, da gedachte ich plötzlich der alten Weissagung und verstand den dunklen Sinn. Flüchtig, grell und entsetzlich wie Wetterleuchten flammte die Erkenntniß auf, mein ganzes Leben zu verwüsten, zu vernichten.“

Der Türke hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt und ächzte. Ich hatte den Sinn seiner Worte nicht gefaßt und sah ihn forschend an, doch ehe ich eine Frage stellen konnte, erschien ein Diener und meldete dem Fürsten einige Worte in arabischer Sprache. Achmed Pascha erhob sich und winkte mir, ihm zu folgen – wir gingen nach dem Krankensaal. Einige Frauen, jetzt in ihrer Verzweiflung unverschleiert, hockten um den Sterbenden und versuchten mit dem Hauche ihres Mundes die erkaltenden Hände und Füße des Kindes zu erwärmen. Beim Nahen des Vaters erhoben sie sich laut heulend. Er gebot ihnen Ruhe. Ich ergriff die herabhängende Hand; kein Pulsschlag verrieth mehr inneres Leben – die Brust hob sich kaum merklich. Bei mehr Lebenskraft hätte die vernünftigere Behandlung das Leben des Kranken verlängert, vielleicht sogar gerettet; in dem Zustande der Erschöpfung, in welchem ich ihn fand, hatte die Veränderung des Gewohnten sein Ende beschleunigt. Noch ein tiefer, röchelnder Athemzug, ein leises Zucken – er war todt. Ein mildes Lächeln verklärte die erstarrten Züge. Wie ein flügelloser Seraph lag der schöne Knabe da.

Laut weinend stürzte sich der Vater auf den geliebten Leichnam. Der Saal füllte sich mit Menschen, die ein gräßliches Klagegeheul anstimmten. Plötzlich wurde das Weinen gedämpft. Rechts und links wichen die Leute zurück; der Secretär des Paschas führte einen Greis herein. Der Fremde näherte sich Achmed, legte die Hand auf seine Schulter und flüsterte ihm einige Worte zu.

Kaum hatte der unglückliche Vater den Alten erblickt, so erhob er sich von den Knieen und umarmte denselben mit wilden Aufschrei. Der Ankömmling sprach ihm Trost zu und führte ihn aus dem Sterbegemache.

In demselben Augenblicke näherte sich mir der junge Mann, der mich hierhergebracht. „Herr Doctor,“ sagte er französisch, „wollen Sie gefälligst dem Diener folgen. Sie dürfen nicht länger im Frauengemache bleiben.“

„Wer ist der Fremde, der solchen Einfluß auf den Pascha hat?“ frug ich neugierig.

„Sein alter Lehrer, ein großer Prophet und weiser Mann. Leider kam er zu spät,“ antwortete der Secretär und entfernte sich.

Ich folgte dem Diener wieder durch mehrere Corridore, die seine Fackel gespenstisch erleuchtete; endlich führte er mich in ein Cabinet, zündete einige Kerzen an, verbeugte sich und verließ stumm das Zimmer, die Thür geräuschvoll schließend. Ich war hungerig, müde, allein – was sollte ich hier? Die Nacht wich schon dem Morgengrauen, dessen bleicher Schein unangenehm, mit dem gelben flackernden Kerzenlichte kämpfte. Die Thore mußten bald geöffnet werden; ich wäre gerne nach Hause zurückgekehrt – „aber ohne Abschiedsgruß?“ sagte eine innere Stimme dagegen; „Warten wir noch eine Weile!“ war das Resultat meines Selbstgespräches. Auf dem Divan lag der Koran; es unterhielt mich, eine Weile darin zu blättern, die seltsamen Schriftschnörkel zu entziffern, den Inhalt halb zu übersetzen, halb zu errathen.

Nach einer Weile begann die Ungeduld wieder gegen die Höflichkeit zu protestiren. Ich zog die Uhr; sie zeigte sieben. Meine Anwesenheit hier war so überflüssig. Die Stunde meiner Morgenbesuche nahte; meine armen Kranken harrten meiner sicher mit Sehnsucht. Der Pascha hatte in dem Schmerze um sein geliebtes Kind meine Wenigkeit vergessen – das war so natürlich. Ich nahm meinen Hut und drückte auf die Thürklinke; sie gab nicht nach. Nochmals versuchte ich meine ganze Kraft, sie zu öffnen – vergeblich; kein Zweifel, der Diener hatte mich eingeschlossen, wahrscheinlich auf hohen Befehl; ein kalter Schauer überlief mich. Säcke mit menschlicher Inlage, nächtlicher Weile in den Bosporus gesenkt; Mörser, die Hochverräther zu Brei zermalmten, und ähnliche gräßliche Bilder tauchten schwindelerregend vor meinem bestürzten Geiste auf.

Haftet der Arzt nach türkischen Begriffen mit seinen Kopfe für den Ausgang der Krankheit, das Leben des Patienten? Hat die asiatische wilde Art der Rechtshandhabung ihre Ableger auch an die blaue Donau, die zahme Save versetzt?

Mitten in meinen abenteuerlich düsteren Phantasien hörte ich den Riegel an der Thür zurückschieben; sie wurde geöffnet – der Pascha trat ein. In seinem Gesichte war die wilde Verzweiflung dem Ausdrucke heiliger Ergebung gewichen. Er reichte mir die Hand, ließ sich auf dem Divan nieder und bedeutete mir, ein Gleiches zu thun. Diener erschienen und stellten auf goldenen Platten ein delicates Frühstück vor mich hin, dem ich auf die Einladung des hohen Hausherrn tapfer zusprach.

„Vergieb, Doctor, daß ich Dich so lange vergessen konnte!“ sprach er weiter mit weicher, tiefer Stimme, in der die Aufregung der Nacht noch leise nachzitterte. „Auch der Prophet möge mir vergeben, daß ich mich gegen den erhabenen Rathschluß des Schicksals mit knabenhaftem Trotze und Ungestüm auflehnte. O, jetzt erkenne ich es klar: es war eben so vergeblich wie thöricht und vermessen, auf menschliche Hülfe zu hoffen und gegen das Verhängniß ankämpfen zu wollen. Mein frommer und gelehrter Freund, der heute Nacht statt durch schriftliche Botschaft in eigener Person mich zu trösten kam, hat das vorhergesehen und mir durch ein Wort die Ruhe der Ergebung verliehen, einem großen und gerechten Schmerze den quälendsten Stachel genommen, den Stachel der Selbstqual, des Vorwurfs, daß bei größerer Fürsorge die Rettung meines todten Lieblings doch möglich gewesen wäre. Der Gedanke war eine arge Versündigung gegen Gott, der in seiner Allmacht nur zuläßt, was sein soll. Siehst Du, Fremdling!“ fuhr er mit gesteigerer Aufregung fort; „die Weissagung lautete: ‚Du wirst einen Sohn bekommen, der frei von jeder Sünde bleiben wird.‘ Des dunklen Satzes düstere Lösung ist – der Tod. Ja, mein Sohn mußte heute Nacht, an der Schwelle seines dreizehnten Geburtstages, sterben; denn erst mit dreizehn Jahren wird nach den Satzungen unseres Glaubens der Mensch für seine Handlungen im Himmel verantwortlich gemacht. Bis dahin ist er ohne Sünde, ohne Erkenntniß und ohne Schuld. Das Loos jedes Menschen ist nach unerforschlichen Gründen von Anbeginn bestimmt. Gelobt sei Allah, der es in seiner Weisheit so gefügt! Nimm meinen Dank für Deine Mühe und kehre glücklich heim!“

Damit erhob sich der Pascha und verließ das Zimmer; gleich darauf erschien der Secretair, übergab mir im Namen seines Gebieters eine Rolle Ducaten und geleitete mich zur Fähre hinab. Wie im Traume fuhr ich über den wohlbekannten Strom. War das wirklich Uros, der alte Fährmann? Noch ganz unter dem Eindrucke des Erlebten, glaubte ich aus einem Fabellande zu kommen; so seltsam hatte die Zaubermacht des Fatalismus meine skeptische Seele berührt. O ihr gesammten Philosophen der Erde, habt ihr einen wissenschaftlichen Satz gefunden, der eine Menschenseele so zu trösten, zu versöhnen vermag, wie der blinde Glaube, die Lehre der Vorherbestimmung? „Wahrlich, wenn ich nicht Alexander wäre, ich möchte Diogenes sein.“

A. F–m.




Das deutsche Geschwader im Orient.


Das von der deutschen Reichsregierung anläßlich der Ermordung des deutschen und französischen Consuls in Salonichi dorthin entsandte Flottengeschwader hat, nachdem der deutschen Ehre und Flagge die denkbar vollste Genugthuung Seitens der türkischen Regierung zu Theil geworden, die dortige Station jüngst wieder verlassen und befindet sich nun theils auf dem Heimwege, theils unterwegs nach anderen entfernten Stationen, wo die Entfaltung der deutschen Reichsflagge zur Wahrung der deutschen Interessen und zu Schutz und Schirm für unsere Landsleute in der Ferne dienlich und nothwendig erscheint.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_653.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)