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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

einem Mädchen geraubten Kuß mit zehn Gulden bestrafte. Die Stattlichkeit der schmucken Häuser, das behäbige Aussehen der Bewohner, die trefflichen gemeinnützigen Einrichtungen (Elementarschulen, Zeichen-, Musik- und Industrieschule) bekunden sofort, daß wir uns im Hauptorte des Thales, in dem wohlhabenden Mittelpunkte lebhaften Handels befinden – soll doch diese Gemeinde die reichste in ganz Tirol sein – aber eben jene Häuser mit ihrer südlichen Bauart, der freistehende, dem Thurme von Sanct Marco in Venedig nachgebildete Glockenthurm, die Gestalt, die Gesichtszüge, die Tracht und die italienische Sprache der Einwohner erinnern zugleich daran, daß wir in der südlichen Grenzstadt Tirols weilen und schon unweit des nahen Dorfes Acquabuona die italienische Grenze sich hinzieht. Um Rundschau zu halten, wandeln wir nach dem prächtigen Aussichtspunkte Monte Crepa, dem „Ampezzatter Belvedere“, und steigen, zurückgekehrt, in dem Glockenturme die zweihundertfünfunddreißig Stufen hinauf. Wir stehen dort wie hier von dem aller Beschreibung spottenden, zauberhaften Anblick gefesselt: vor uns das saubere, wohlhäbige Cortina mit seinen südlichflachen Dachungen, feinen Holzgalerien der Häuser, seinem regen Straßenleben, in saftiggrünem Thalgrunde, an der rauschenden, blinkenden Boika, ringsum im Kreise aber in harmonischer Gruppirung die Gebirgsriesen, die weißen Wände, die scharfkantigen in den wunderlichsten Formen himmelanstarrenden Dolomiten und sie alle aufgethürmt wie ein kolossaler Wall! Tausende auf Tausende von Jahren sind darüber hingezogen, und der gigantische Wall steht noch immer fest und unerschüttert. Zwar hat auch er der allmächtigen Zeit seinen Tribut zu zollen der magnesiahaltige Kalkstein, aus welchem diese Dolomiten bestehen, unterliegt unter dem Einflusse von Luft und Wasser, von Regen und Frost der allmählichen Verwitterung und Zerbröckelung. Abgelöste Gebirgsmassen sind von fetten Felsenriesen, insbesondere dem Monte Antelao, in die Tiefe gestürzt und haben schon ganze Dörfer begraben, ja selbst Cortina bedroht. Aber was sind dergleichen einzelne Ablösungen gegen die Gesammtheit dieser Kolosse! Tausende von Jahren werden die Wände der Riesenburg um Cortina noch in derselben hehren Majestät sehen, wie wir sie sahen von der Galerie des Campanile aus.

An einem schönen frischen Morgen fuhren wir nach Toblach zurück. Als wir langsam die Paßhöhe Peutelstein zu gewinnen suchten, kam auch für unsern Rosselenker endlich die ersehnte Gelegenheit, eine wißbegierige Frage an uns zu thun. Er wollte gern Gewißheit darüber haben, ob wir Protestanten denn auch getauft seien – hatten ihn doch die Pfaffen gelehrt, daß alle Ketzer, den Heiden gleich, ohne Taufe aufwüchsen, und uns, die wir sein Wohlgefallen erregt hatten, mochte er doch dergleichen nicht zutrauen. Wie freute sich der Gute, als er von uns Ketzern erfuhr, daß seine Pfaffen ihn falsch berichtet hatten!

In Schluderbach, dem gemüthlichen Gasthause, wurde noch einmal eingesprochen. Mit wahrer Herzlichkeit schüttelte uns der biedere alte Ploner die Hand und schenkte uns zum Abschiede seltene Alpenblumen. Möge ihm, der ein warmer Freund der „Gartenlaube“, dieses Blatt unsern Erinnerungsgruß bringen!

Durch das prächtige Pusterthal flogen wir auf Flügeln des Dampfes über Franzensfeste nach Bozen. Schon am Abende des nächsten Tages standen wir dort auf der Brücke und begrüßten von Neuem eine alte Freundin, die den östlichen Hintergrund des reizenden Thales bildende lange Gebirgskette, und sie verstand unsere Verehrung und erwiderte unsern Gruß – in prachtvollstem Purpurroth erglühten die hochaufragenden Dolomiten.

Robert Keil.


Der nordfränkische Zschokke.
Ein Dichterlebensbild von Friedrich Hofmann.

Wer ist der kühne Reiter? Sprengt die Wiese am Waldrande daher ein etwa zehnjähriger Dorfjunge auf einer Kuh! Dieser Ritt scheint, wenigstens für die Kuh, kein Vergnügen zu sein, denn sie gebraucht plötzlich eine Kriegslist, um ihre Last los zu werden: sie trabt so hart an den Baumstämmen hin, daß der Junge, um sein bedrohtes Bein zu retten, es hinaufziehen muß, und so verliert er den Halt und wird vom Kuhrücken gleichsam heruntergeschält.

In der That ist der Ritt eine Strafe für die Kuh gewesen. Der junge Hirt, des Schulmeisters Heinrich, hatte die Gewohnheit, aus dem bescheidenen Vorrathe des Vaters immer einige Bücher im Brodsack mit auf die Weide zu nehmen, um seine Lern- und Lesebegier zu stillen. Sobald aber die Kuh den Heinrich in seine Bücher vertieft sah, schlich sie sich von dannen, um auf eigene Faust im Walde spazieren zu gehen. Weil die Uebelthäterin den Strafritt vereitelte, band Heinrich sie fortan an einem langen Strick sich am Beine fest, und wenn nun der Knabe in seinen Büchern oder auf den Flügeln seiner Phantasie so selig schwärmte, daß ihm die Augen leuchteten, stand die böse Kuh daneben und machte ihr verdrießlichstes Gesicht dazu.

Das ist ein Bildchen aus dem Lebensaufgang eines Dichters, der innerhalb der kurzen Spanne eines sogenannten Menschenalters in der Erforschung und Darstellung des Völkchens, dem er angehörte, von der Pike auf gedient und durch fünf Werke sich einen Platz in der Reihe der besten Volksschriftsteller errungen hat. Leider dürfen wir ihn ganz laut loben, denn er ist todt und der Alpenschnee fällt zum dritten Male auf seinen Grabhügel. Dieser Schriftsteller ist Heinrich Schaumberger, und die fünf Werke heißen „Vater und Sohn“, „Im Hirtenhaus“, „Fritz Reinhardt, Erlebnisse und Erfahrungen eines Schullehrers“, „Zu spät“ und „Bergheimer Musikantengeschichten“.

Ein besonderer Werth dieser Dichtungen, zu welchen aus dem Nachlaß des so jung Heimgegangenen noch eine Anzahl Volkssittenschilderungen, Erzählungen, kleinerer Aufsätze und Poesien gekommen ist[1], gründet sich auf die meisterhafte Charakteristik seiner Heimath-Landbevölkerung, die, den Herzogtümern Coburg und Meiningen angehörig, durch ihre fränkisch-thüringische Mischung eine mit hervorstechenden Eigenthümlichkeiten in Leben, Sitten, Gewohnheiten und Sprache ausgestattete Uebergangsgruppe am Südabhang des Thüringer- und Frankenwaldes bildet. Eine solche Volksthümlichkeit kann nicht studirt, sondern muß eingelebt werden, und daß Heinrich Schaumberger darin aufwuchs, mit dem Herzen immer darin blieb, aber mit dem Kopfe darüber emporragte und dieselbe durch seinen Beruf verstehen, schätzen, für die Darstellung endlich beherrschen lernte und sein ungewöhnliches Erzählertalent ihr ganz widmete, das hat ihn zu dem Dichter erhoben, als welchen wir ihn lieben und ehren.

Schaumberger’s Geburtsort ist das Städtchen Neustadt, zwischen Coburg und Sonneberg, jetzt an der beide Städte verbindenden Eisenbahn liegend. Dasselbe treibt die Hauptbeschäftigung beider Nachbarn, die Spielwaarenfabrikation Sonnebergs und die Bierbrauerei Coburgs im einem Maße, daß es zu beiden eine Stellung wie etwa Fürth zu Nürnberg einnimmt. Spielwaaren und Bier lassen auf ein rühriges und heiteres Völkchen schließen, und so ist das Neustädter in der That, Heinrich Schaumberger aber war das richtige Kind dieser Stadt. Eines seiner nachgelassenen Werke aus früherer Zeit, die „Bergheimer Musikantengeschichten“, liefern wahre Cabinetsstücke des gesundesten Humors, der ihm selbst dann nicht ganz ungetreu wurde, als das Schicksal dafür sorgte, den Ernst in ihm zur Vorherrschaft zu bringen.

Die ersten Schatten fielen im Elternhause auf sein Leben. Seine Mutter, an der er, wie es ja so deutsche Dichterweise ist, mit zärtlichster Liebe hing, war immer krank. Als der Knabe sechs Jahre alt war (er ist am 15. December 1843 geboren), wurde sein Vater als Lehrer in das schöne, große Pfarrdorf Weißenbrunn vor dem Walde versetzt, wo die Eltern seiner Mutter wohnten. – Großeltern! – Welchem Kinde lacht nicht das Herz schon bei dem Worte? Aber schon nach vier Jahren verlor er hier seine Mutter; sie erlag dem Lungen- und Kehlkopfsleiden, von dem sie den Keim als schreckliche Erbschaft ihrem armen Sohne hinterließ. Heinrich’s Vater war ein offenbar durch die Lasten und Sorgen seines Berufes verstimmter Mann; er hatte

  1. Sämmtliches erscheint soeben in 2. Auflage als „Gesammelte Werke von Heinrich Schaumberger“ bei J. Zwißler in Wolfenbüttel in Heftlieferungen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_738.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)