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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Ja, ja, wer glaubt den Propheten? Und doch behalten sie zuweilen Recht. Daß der Geliebte dem Freunde, welchen sie unter allen am höchsten schätzte, sympathisch gewesen, that ihr auch so wohl. Sie griff zur Feder, um gleich aus dieser Stimmung einmal wieder an Bernardin zu schreiben – da öffnete sich die Thür und Monika kam herein, strauchelnd, todtenblaß. Sie öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, das Wort erstickte ihr in der Kehle – mit verzweifelten Augen warf sie sich neben Valentinens Sessel nieder und hielt ihr einen zerknitterten Druckbogen entgegen. Des Fräuleins Blick irrte erschrocken von ihr auf das Blatt und wieder zu ihr zurück. Monika erfaßte krampfhaft ihren Arm und deutete mit der Rechten auf eine Linie des Bogens.

Dies war die Todtenliste. Unter den bei Villersexel Gefallenen stand: „Wilhelm Huber, Gefreiter. Todt.“

Valentine umschlang mit überströmenden Augen die arme junge Frau, welche halb entseelt in ihren Armen hing. Nach einigen Augenblicken wand diese sich los und sah mit geisterhaftem Blicke in das Leere.

„Jetzt kann ich nimmer heim zu ihm nach meinem Willen, wie ich fort bin nach meinem Willen – so haben Sie gesagt, Fräulein, gleich das erste Mal. Damals hab’ ich’s nicht hören mögen und hab’ doch immer an das Wort deuten müssen, von der Stund’ an. Jetzt kann ich nimmer heim, und er hat mir nicht zuvor verziehen, was ich ihm angethan hab’. Daß Gott mir’s verzeihen soll – war sein letztes Wort für mich.“

Ihr Kopf neigte sich immer tiefer. Ohne Bewußtsein sank sie vor Valentine nieder.


Die Todeskunde bestätigte sich. Valentine, die noch auf die Möglichkeit eines Irrthums gehofft und sofort an den General geschrieben hatte, erfuhr durch diesen den Hergang. Während jener Tage, in denen das vierzehnte Armeecorps dem mit überlegenen Kräften vorrückenden Feinde gegenüber wiederholt den Standort wechselte und ihm, um die Belagerung Belforts zu decken, bei Villersexel in die Flanke fiel, war der Gefreite Huber als Führer einer Patrouille ausgesandt worden und so weit vorgegangen, daß der kleine Trupp plötzlich von feindlichen Kugeln beschossen wurde. Die Mannschaft sah den Gefreiten fallen; Einer von ihnen eilte herzu, fand Huber mit einem Schusse am Kopfe todt hingestreckt und rettete sich mit den Cameraden nach seinem Corps zurück.

Wenige Wochen später wurde Monika von Seiten der Ortsgemeinde, welcher Huber angehöre, der nach ihrer Heimath gesandte Todtenschein ihres Mannes zugestellt. Sie trug das schwarze Ehrenkleid, das Tausende von Müttern, Wittwen und Waisen gleich ihr trugen.

Der Schmerz hat, gleich der Liebe, viele Gestalten. Pocht auch in aller Menschen Brust dasselbe Herz, jedes hat seine eigene Liebe, seine eigenen Schmerzen. Das eine will sich ausklagen; fühlt es auch dunkel, daß die wenigsten der Zuhörenden dabei an sein Leid denken, sondern nur an das, was sie selbst ähnlich betroffen hat oder betreffen könnte, so ist ihm dennoch schon die eigene Klage Erleichterung. Das andere hüllt seine Todespein in Schweigen. Grausam ist ihm ein Trostwort; die Wunde zuckt bei der zartesten Berührung; sie will und kann nur nach innen bluten. Das gotterfüllte Herz fühlt sich dem Himmel zwiefach verbunden; das zweifelnde klagt den Himmel an, allen aber reift die gleiche Erfahrung: von Menschen kann Trost nicht kommen, auch von den theuersten nicht, und selbst Gott hat ihn nur der Zeit aufgetragen. Das verzweifeltste Weh verliert seinen Stachel, wenn das Bewußtsein erwacht, daß man wohl das Wesen verlieren kann, woran das Herz hängt, nicht aber die Liebe. Einen Schmerz aber giebt es, über den selbst die Zeit nichts vermag: den Verlust, dem sich der Vorwurf gesellt. Ist ja doch das menschliche Herz so geschaffen daß wir uns weit mehr davor fürchten, die Todten zu betrüben, die allem Leide entrückt sind, als die Lebenden. Fordert es unsere Meinung, dann halten wir uns entschuldigt, ja berechtigt, unseren Nächsten und Liebsten wehe zu thun, aber dem letzten Wünschen oder Wollen eines Todten zuwider zu handeln, tragen wir tiefste Scheu, selbst dann, wo unsere Ansicht, wo alle Umstände widersprechen. Die Todten sind fern und wehrlos, aber sie üben höchste Gewalt. Ihre letzten Worte klingen in alle Ewigkeit nach. Und war dieses letzte Wort, das wir von ihnen gehört, eine Anklage – was auf Erden und im Himmel gäbe es wohl, um sie je wieder schweigen zu machen!

Nach jenem Ausbruch der ersten Stunde hielt Monika Alles, was in ihr vorging, tief in sich verschlossen. Nachdem sie von einer Krankheit, die ihrer Ohnmacht gefolgt, aber nur von tagelanger Dauer gewesen, wieder aufgestanden war, ging sie im Hause umher und beschäftigte sich wie gewohnt. Nur sprach sie nie, außer wenn sie um etwas befragt wurde. In ihrem Wesen war nichts von der unheimlichen Starrheit, welche nach dem Tode ihres Kindes sie versteinert hatte und trotz Valentinens liebreicher Pflege erst nach langen Wochen gewichen war. Dennoch machte sie ihr jetzt weit größere Sorge als damals. Monika erschien gleich einem Instrument, dessen Hauptsaite gerissen ist; die übrigen tönen noch, aber kein Vollklang ist möglich. Die junge Frau regte unermüdlich ihre Hände; sie weinte nicht – oft, wenn Valentine sie liebevoll anblickte, lächelte sie sogar, wenn sie aber des Morgens eintrat, zeugten ihre tiefeingesunkenen Augen, deren altes Lächeln für immer dahin zu sein schien, von trostlosen Nächten.

Tag reihte sich an Tag. Die Ereignisse waren inzwischen ihren gewaltigen Weg vorwärts gegangen. Der Ausgang Januar geschlossene Waffenstillstand war bereits bis Ende Februar verlängert worden. Um diese Zeit schrieb der General an Valentine und forderte sie zu einem Rendez-vous in Straßburg auf, da er sich für einige Tage frei machen konnte. Der Vorschlag erfüllte sie mit großer Freude; trotz all seiner selbstsüchtigen Eigenheiten hing sie mit tiefer Innigkeit an ihrem Vater, und die Sorgen um ihn hatten ihr in jüngster Zeit ihre Anhänglichkeit noch lebhafter zum Bewußtsein kommen lassen. Ihn wohlbehalten wiedersehen zu dürfen, so unverhofft, war ihr hoch willkommen, um so mehr, als man wohl den Frieden heiß ersehnte, seiner wirklichen Nähe aber noch keineswegs sicher sein konnte. Ueberdies war es Valentine höchst erwünscht, ihren Vater persönlich zu sprechen, ehe sie Hartung wiedersah. Noch hatte sie sich nicht entschließen mögen, sich über die wieder angeknüpfte Beziehung brieflich zu äußern; das Thema war so zart, die Zukunft noch so im Schleier, und vor Allem ihre Ueberzeugung, hiermit dem Vater Unwillkommenes mitzutheilen, so begründet. Daß es Kampf kosten würde, die schon früher nicht besonders gern gewährte Zustimmung zu diesem Bündniß zu gewinnen, wußte sie. Doch bangte ihr darum nicht. Hatte die Zeit eine Entscheidung nur erst gereift, so wußte sie gleichfalls, daß ihr Recht auch Billigung erringen würde. Gut aber war es, hierauf leise vorbereiten zu können.

Der nächste Gedanke des Fräuleins war Monika. Sie rief sie zu sich, sagte ihr von der nächster Tage beabsichtigten Reise und fragte, ob Monika sie begleiten wolle.

Die junge Frau sah sie dankbar an: „Fräulein, ich sehe schon, Sie möchten mich durch die Reise zerstreuen. Aber ich bitt’ schön, nehmen Sie die Anna mit, die sich ja auch besser auf alles Nöthige versteht! Mich lassen Sie lieber da!“

„Nicht gern,“ entgegnete Valentine und strich ihr leise über die Stirn.

„Machen Sie sich doch keine Sorge um mich!“ sagte Monika flüchtig erblassend. „Ich habe ja zu thun.“

„Freilich hat es auch sein Gutes, wenn Sie zu Hause bleiben. Im Verein, im Lazareth können Sie mich vertreten, und Alles bleibt im Gang.“

„Wenn ich die Sachen auch nicht so gut einzurichten weiß, wie Sie, Fräulein, will ich doch gewiß meine Schuldigkeit thun.“ Sie schrak unwillkürlich zusammen. „Ach, Fräulein, wie oft hab’ ich mich sonst über das Wort geärgert – jetzt hab’ ich’s endlich selber begriffen, was das heißt, seine Pflicht und Schuldigkeit thun. Jetzt wüßt’ ich mir nicht mehr ein und aus auf der Welt, gäb’s nicht das Wort; das ist wie Speis’ und Trank; man lebt davon, und hätte man’s nicht, dann wär’s mit Einem aus und vorbei.“

Valentine drückte ihr warm die Hand, Gottlob! Endlich ein freiwilliges Wort und das beste!

Am zweitfolgenden Morgen begleitete Monika ihr Fräulein nach der Bahn. Obgleich es noch im Februar war, herrschte doch heute jene milde Temperatur, welche sich mitunter in das als rauh berüchtigte Klima der Hauptstadt einschleicht, wie ein Vorfrühling. Die Sonne vergoldete Alles und spielte auch über Valentinens zartes, etwas geröthetes Gesicht hin. Im Begriff,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_762.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)