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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

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Ohne Inschrift.
Eine Skizze aus dem podolischen Ghetto.
Von Karl Emil Franzos.
(Schluß.)


Die zwei Greise waren eben in Uebung eines frommen Brauches begriffen, den ich so lange schon nicht mehr gesehen, daß er mir jetzt auf den ersten Blick wie ein Fremdes erschien. Es trug nämlich jeder der beiden Männer ein gelbes hölzernes, Stöckchen in der Rechten, und auf den beiden Stöckchen war ein Faden dicht und dick aufgewickelt, derselbe Faden, hier das eine, dort das andere Ende, sodaß er die Stöckchen mit einander verband. Standen die Männer zusammen, so lehnten sie die Stöckchen aneinander und sangen dumpf und eintönig ihr sonderbares Duett. Dann aber verstummte der Eine, hielt sein Stöckchen senkrecht und stand wie eingewurzelt, während sich der Andere in Bewegung setzte und langsam und gravitätisch die Haide entlang schritt, indem er in hohen Tönen durch die Nase dazu sang und von seinem Stöckchen so viel des Fadens abhaspelte, wie eben der Weg betrug, sodaß der Faden immer straff gespannt blieb. Nach etwa dreißig Schritten blieb er stehen und verstummte, der Andere aber setzte sich näselnd in Bewegung und haspelte den Faden auf, sodaß der Wulst auf dem einen Stöckchen immer dicker, auf dem anderen immer dünner ward. Dann abermals ein Duett und wieder die sonderbaren Soli.

Man nennt diesen Brauch das „Feldmessen“, und wenn er auch nur in einigen Gegenden Podoliens in der beschriebenen Art vollzogen wird, so übt man ihn doch in anderen Formen allüberall, wo Juden wohnen. Am Sterbetage theurer Todten läßt man den Umfang des Friedhofes, wo sie ruhen, mit einem Faden abmessen und gebraucht denselben zu irgend einem frommen Zwecke: als Docht für Opferkerzen oder zum Nähen eines Betmantels. Es ist dies der Ausfluß einer trüben, schweren Symbolik, und es würde hier zu weit führen, sie zu deuten.

Ich schaute den Männern eine Weile zu, dann trat ich an sie heran und fragte, wer in jenem Grabe ruhe.

Die Männer blickten mich scheu an.

„Warum fragt Ihr?“ sagte der Eine endlich zögernd.

„Weil ich es wissen will.“

„Und warum wollt Ihr es wissen?“

Darauf wäre die directe Antwort zu lang gewesen, und ich wählte daher eine kürzere, indirecte.

Der eine der beiden ehrwürdigen, aber überaus schmutzigen Greise – es war ein Wunder, daß sie nicht zusammenklebten, wenn sie so dicht beisammen standen – trug in seinem Antlitze eine überaus rothe Nase. Das deutet immer auf Durst und ein heiteres Gemüth. Und wer durstig und heiter ist, mit dem kann man sich leicht verstehen.

Ich blickte also den Mann innig an wie einen alten Freund und griff dabei in die Tasche. „Nun – wer?“

Er folgte dieser Bewegung mit sichtlichem Interesse, aber ergab sich noch nicht. „Steht es auf dem Steine geschrieben?“ fragte er.

„Dann würde ich Euch nicht fragen. Aber warum steht es nicht dort geschrieben?“

Meine Hand kam wieder zum Vorscheine, aber der ehrwürdige Greis ergab sich noch immer nicht.

„Warum?“ wiederholte er. „Weil es eine Sünde wäre, des Namens zu gedenken. Also warum soll ich sündigen und den Namen sagen? Warum sollt Ihr sündigen, indem Ihr ihn anhört? Warum soll Reb Nathan hier sündigen, indem er uns Beiden zuhört?“

„Ein Opfer für die Armen tilgt die Sünde,“ beruhigte ich und drückte dem Manne warm die Hand.

Aber dem ehrwürdigen Greise lag offenbar sehr viel an seinem Seelenheile, und er zählte darum halblaut nach, ob es genügend gesichert sei. Dann war zwar er getröstet, aber Reb Nathan wurde unruhig. Nun hätte er sich freilich der Sünde des Zuhörens leicht entziehen können, denn wir waren im Raume gerade nicht beschränkt. Aber er zog ein anderes Mittel vor, obwohl er keine rothe Nase hatte.

Und erst nachdem das geschehen, sagte der Eine: „Wer dort liegt?“ und der Andere: „Lea Rendar’s liegt dort.“

Das heißt zu deutsch: „Lea, die Tochter des Schenkwirths. Aber ich mußte dennoch fragend blicken.

„Wer hat die nicht gekannt?“ meinten die Männer erstaunt. „Lea aus der gelben Karczma (Wirthshaus)! Die Frau des langen Ruben, des Ruben neben dem Rathhause! Lea mit den langen Haaren!“

Nun wußte ich freilich, wen sie meinten. Und was bisher doch wohl nur Neugierde gewesen, ward nun innigste, seelische Theilnahme. „Und die war eine Sünderin?“ rief ich erstaunt.

„Ob sie eine Sünderin war?“ entgegnete Reb Abraham, der Rothnasige. „Hat es je eine größere gegeben? Es hat nie eine größere gegeben. Was Gesetz ist, hat sie mit Füßen getreten. Und wer wird dafür verdammt sein? Sie und ihr Mann – Ruben der Rathhauser. Denn wenn er es ihr gewehrt hätte, der Frevel wäre nie geschehen.“

„Und noch Einer wird verdammt sein um ihrer Sünde willen,“ rief Reb Nathan. „Gavriel Rendar, ihr Vater. Denn wenn er sie anders erzogen hätte, der Frevel wäre ihr nie in den Sinn gekommen.“

„Richtig, der auch!“ bekräftigte Abraham. Aber dann erfaßte ihn doch leises Mitleid mit dem Manne, in dessen Hause seine Nase den schönen Glanz bekommen, und er fügte, milder hinzu: „Dem wird der Allmächtige vielleicht vergeben. Hat er denn so Furchtbares ahnen können? Aber Ruben – das ist etwas Anderes, der ist gewiß verdammt.“

„War es wirklich so furchtbar?“

„Furchtbar? Das Gräßlichste! Habt Ihr wirklich noch nicht davon gehört? Eine unerhörte Geschichte! Eine merkwürdige Geschichte!“

Und sie erzählten mir die merkwürdige, unerhörte Geschichte. Denn dies ist sie wirklich, freilich wohl in anderem Sinne, als die beiden Ehrwürdigen ahnten.

Es wird mir eigen zu Muthe, nun ich sie wieder erzählen soll. Vor Allem: sie klingt so unglaublich. Und nur wenigen Menschen des Westens ist eine Brücke des Verständnisses geschlagen in diese fremde düstere Welt. Die Anderen alle werden den Kopf schütteln. Ich aber kann nur sagen: es ist wahr, es ist nicht erfunden, es hat sich wirklich so begeben. – Und dann: die Geschichte ist so traurig. Mir thut das Herz weh, da sie sich mir noch einmal vor die Augen stellt.

Die Lea war ein sehr schönes Mädchen. Ererbt war das nicht, denn die Mutter war ein kleines, dickes puterrothes Weib und „Gavriel Rendar“, der Wirth in der großen gelben Schenke am Wege gegen Alt-Barnow, ein ungeschlachter Riese mit einem mißfarbigen, von Pockennarben zerrissenen Gesichte. Auch die beiden Söhne, die im Hause umherlümmelten, repräsentirten sich just nicht als Zierden der Menschheit. Es war eine finstere, verdrossene gewaltthätige Familie, die da im unheimlichen Hause hantirte, ewig damit beschäftigt, den Durstigen Fusel einzuschenken und die Allzubetrunkenen hinauszuwerfen. Und in diesem Hause erwuchs das heiterste, lieblichste Kind, in dieser Familie erblühte die schönste, holdseligste Jungfrau, die vielleicht je meine Augen schauen gedurft. Die Lea Bergheimer war wie ein Sonnenstrahl.

Und eine Fülle goldigen Lichts trug sie ja auch um das stolze Haupt – so reiches, so leuchtendes Goldhaar hab’ ich alle meine Tage nicht wieder gesehen. Eine Jüdin ist selten blond, und vollends findet man keine blonden Schönheiten unter den Frauen dieses Volkes. Die jüdischen Schönheiten sind braun oder schwarz. Aber die Lea war eine Ausnahme, wie sie denn überhaupt wenig vom jüdischen Typus hatte, sofern man nicht ihren herrlichen, schlanken und doch üppigen Wuchs als solchen gelten lassen will.

Ihr Antlitz war ganz germanisch: feine rosige Züge und tiefe, blaue Augen. Der Ausdruck dieser Züge freilich war nicht gretchenhaft, sondern fröhlich und glühend. Im Wiener Belvedere hängt in einem Nebensaale ein Bild aus dem siebenzehnten Jahrhundert, ein Wiener Bürgermädchen darstellend, von einem Spanier gemalt. Das Original war ein deutsches Mädchen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_786.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)