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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 48.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Waldemar erwiderte nichts. Ihm, dem Besonneneren, stieg sofort der Gedanke an die Gefahr auf, der sich Leo hier aussetzte; er wendete sich um, schloß die Thür des Nebenzimmers ab und kehrte dann wieder zurück.

„Nein,“ entgegnete er, die Frage erst jetzt beantwortend, „und auch die Mutter hat Dich schwerlich erwartet.“

„Ich wollte Dir Glück wünschen zu Deiner Heldenthat auf der Grenzförsterei, denn so wirst Du Deine Handlungsweise ja wohl nennen,“ fuhr der junge Fürst mit unverstelltem Hohne fort. „Du hast den Förster niedergeschossen und den Uebrigen allesammt die Spitze geboten. Die Feiglinge wagten es nicht, Dich anzurühren.“

„Sie gingen noch in derselben Nacht über die Grenze,“ sagte Waldemar. „Sind sie etwa zu Dir gestoßen?“

„Ja.“

„Das dachte ich mir. – Seit wann bist Du fort von Deinem Commando?“

„Willst Du etwa ein Verhör mit mir anstellen?“ fuhr Leo auf. „Ich bin gekommen, Dich zur Rechenschaft zu ziehen. Komm! Wir haben allein miteinander zu reden.“

„Ihr bleibt!“ gebot die Fürstin. „Ich lasse Euch nicht allein bei dieser Begegnung. Wenn sie denn doch einmal stattfinden muß, so sei es in meiner Gegenwart! Vielleicht vergeßt Ihr es dann nicht so ganz, daß Ihr Brüder seid.“

„Bruder oder nicht!“ rief Leo außer sich. „An mir hat er den schmählichsten Verrath geübt. Er wußte, daß Wanda meine Braut war, und er hat sich nicht gescheut, sie und ihre Liebe an sich zu reißen. So handelt nur ein Verräther, ein Ehr –“

Die Mutter wollte ihm wehren, aber umsonst - das Wort „Ehrloser“ fiel von seinen Lippen, und Waldemar zuckte zusammen, als habe ihn eine Kugel getroffen. Die Fürstin erbleichte. Es war nicht die bis zur Raserei gesteigerte Leidenschaft ihres jüngsten Sohnes, die sie so erschreckte, sondern der Ausdruck in dem Gesichte des ältesten, als dieser sich jetzt emporrichtete. Ihn riß sie zurück, ihn fürchtete sie, obgleich er waffenlos war, während Leo den Degen an der Seite trug, und mit der vollen Autorität der Mutter zwischen beide tretend, rief sie gebietend:

„Waldemar – Leo – Mäßigung! Ich befehle es Euch.“

Wenn die Fürstin Baratowska befahl, mit diesem Tone und dieser Haltung befahl, so hatte sie sich noch immer Gehör erzwungen. Auch ihre Söhne gehorchten unwillkürlich. Leo ließ die Hand sinken, die er schon am Degengriffe hatte, und Waldemar hielt inne. Er rang wieder furchtbar mit seinem Ungestüme, aber die Worte der Mutter hatten ihn zur Besinnung gebracht, und mehr bedurfte es jetzt nicht, um ihn sich selber zurückzugeben.

„Leo, jetzt ist es genug mit den Beleidigungen,“ sagte er rauh. „Noch ein Wort, ein einziges, und es bleibt uns wirklich keine andere Entscheidung, als die Waffe übrig. Wenn Du gestern noch das Recht hattest, mich anzuklagen, heute ist es verwirkt. Ich liebe Wanda mehr, als Du ahnst, denn Du hast nicht, wie ich, jahrelang im Kampfe mit dieser Leidenschaft gelegen, Dich nicht durch Haß und Trennung und Todesgefahr hindurchgerungen zum Bewußtsein, daß sie stärker ist als Du. Aber selbst um Wanda’s willen hätte ich nicht Pflicht und Ehre hingegeben. Ich wäre nicht von dem Posten gewichen, der mir übergeben ist, hätte nicht heimlich die mir anvertraute Schaar verlassen und den Eid gebrochen, mit dem ich meinem Führer Gehorsam zugeschworen. Das Alles hast Du gethan – die Mutter mag es entscheiden, wer von uns das schmachvolle Wort verdient, das Du mir zuschleuderst.“

„Was ist das, Leo?“ rief die Fürstin empor schreckend. „Du bist doch hier mit Wissen und Willen Deines Oheims? Du hattest doch ausdrückliche Erlaubniß von ihm, nach Wilicza zu gehen? Antworte!“

In dem bisher so bleichen Gesichte des jungen Fürsten schlug es jetzt wie eine Flamme auf; er wagte es nicht, dem Auge der Mutter zu begegnen, und wandte sich statt dessen mit jäh aufloderndem Trotze zu seinem Bruder.

„Was weißt Du von meinen Pflichten, was kümmern sie Dich? Du hältst es ja mit unseren Feinden. Ich habe meinen Platz im Kampfe so lange behauptet und werde zur Stelle sein, sobald es Noth thut. Aber eben deshalb eilt die Sache zwischen uns. Ich habe nicht viel Zeit, mit Dir abzurechnen; ich muß zurück zu den Meinigen, noch heute, schon in den nächsten Stunden.“

„Du kommst zu spät,“ sagte Waldemar kalt. „Du findest sie nicht mehr.“

Leo faßte augenscheinlich den Sinn dieser Worte nicht. Er sah den Bruder an, als rede dieser zu ihm in einer fremden Sprache.

„Seit wann hast Du Dein Commando verlassen?“ fragte Waldemar noch einmal, aber diesmal mit so furchtbarem Ernste, daß der Bruder ihm halb unwillkürlich Antwort gab.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_797.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)