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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Schwelle; hinter ihm zeigte sich die hohe Gestalt Waldemar’s, und fast in derselben Secunde lag Wanda in den Armen ihres Vaters.

Fabian und Gretchen hatten Tact genug, sich bei diesem ersten Wiedersehen zurückzuziehen. Sie fühlten, daß sie hier doch nur Fremde waren, aber auch Waldemar schien sich zu den Fremden zu rechnen, denn anstatt einzutreten, schloß er die Thür hinter dem Grafen und blieb im Nebenzimmer, wo er seinem ehemaligen Lehrer herzlich die Hand reichte.

„Da sind wir glücklich,“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge. „Die Hauptgefahr wenigstens ist überstanden. Wir sind auf deutschem Boden.“

Fabian umschloß mit beiden Händen die dargebotene Rechte. „In welches Wagniß haben Sie sich wieder gestürzt, Waldemar! Wenn Sie entdeckt worden wären!“

Waldemar lächelte. „Ja, das ‚Wenn‘ muß man bei solchen Unternehmungen von vorn herein ausschließen. Wer über den Abgrund will, darf nicht an den Schwindel denken, sonst ist er verloren. Ich habe die Möglichkeiten nur insofern in Betracht gezogen, als es galt, ihnen vorzubeugen. Im Uebrigen habe ich fest auf mein Ziel geschaut, ohne rechts oder links zu blicken. Sie sehen, das hat geholfen.“

Er warf den Mantel ab und zog aus der Brusttasche einen Revolver, den er auf den Tisch legte. Gretchen, die in der Nähe stand, wich einen Schritt zurück.

„Erschrecken Sie nicht, Frau Professorin!“ beruhigte sie Nordeck. „Die Waffe ist nicht gebraucht worden; die Sache ist ohne jedes Blutvergießen abgegangen, obgleich es anfangs nicht den Anschein hatte, aber wir fanden einen unerwarteten Helfer in der Noth, den Assessor Hubert.“

„Den neuen Regierungsrath?“ fiel die junge Frau erstaunt ein.

„Ja so, er ist ja Regierungsrath geworden! Nun kann er die neue Würde drüben in Polen geltend machen. Wir sind mit seinem Wagen und seinen Legitimationspapieren über die Grenze gefahren.“

Der Professor und seine Frau ließen gleichzeitig einen Ausruf der Ueberraschung hören.

„Freiwillig hat er uns diese Gefälligkeit allerdings nicht erwiesen,“ fuhr Nordeck fort. „Im Gegentheile, er wird nicht verfehlen uns Straßenräuber zu nennen, aber Noth kennt kein Gebot. Für uns standen Freiheit und Leben auf dem Spiele, da galt kein langes Besinnen. – Wir langten gestern Mittag in dem Wirthshause eines polnischen Dorfes an, das nur zwei Stunden von der Grenze entfernt liegt. Daß man uns auf der Spur war, wußten wir und wollten um jeden Preis hinüber auf deutsches Gebiet, aber der Wirth warnte uns, die Flucht vor Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, es sei unmöglich, man fahnde in der ganzen Umgegend auf uns. Der Mann war ein Pole. Seine beiden Söhne hatten bei der Insurrection unter dem Grafen Morynski gedient; die ganze Familie hätten ihr Leben für den ehemaligen Chef gelassen. Der Warnung war unbedingt zu trauen – wir blieben also. Es war gegen Abend, und unsere Pferde standen bereits gesattelt im Stalle, als der Assessor Hubert, der von W. zurückkam, plötzlich im Dorfe erschien. Sein Wagen hatte irgend eine Beschädigung erhalten, die schleunigst ausgebessert werden sollte; er hatte ihn in der Dorfschmiede gelassen und kam nun in das Wirthshaus, hauptsächlich, um sich zu erkundigen, ob keine Spur von uns aufzufinden sei. Sein polnischer Kutscher mußte ihm, da er der Landessprache unkundig war, als Dolmetscher dienen. Er hatte ihn deshalb auch nicht bei dem Wagen gelassen, sondern mitgenommen. Der Wirth behauptete natürlich, von nichts zu wissen. Wir waren im oberen Stocke verborgen und hörten ganz deutlich, wie der Assessor unten im Hausflure in seiner beliebten Art von flüchtigen Hochverräthern declamirte, denen man auf der Spur sei. Dabei war er so freundlich, uns zu verrathen, daß wir in der That verfolgt wurden, daß man den Weg kannte, den wir genommen hatten; er wußte sogar, daß wir unser zwei und zu Pferde seien. Jetzt gab es keine Wahl mehr. Wir mußten fort, so schnell wie möglich. Die unmittelbare Nähe der Gefahr gab mir einen glücklichen Gedanken ein. Ich ließ dem Wirthe durch seine Frau schnell die nöthigen Weisungen zukommen, und er begriff sie auf der Stelle. Dem Assessor wurde gemeldet, daß sein Wagen vor Ablauf einer Stunde nicht herzustellen sei; er war sehr ungehalten darüber, bequemte sich aber doch, so lange im Wirthshause zu bleiben und das angebotene Abendessen einzunehmen. Inzwischen gingen wir zur Hinterthür hinaus und nach der Dorfschmiede. Der Sohn des Wirthes hatte bereits dafür gesorgt, daß der Wagen im Stande war. Ich stieg ein; mein Oheim,“ – es war das erste Mal, daß Waldemar diese Bezeichnung von dem Grafen Morynski gebrauchte – „mein Oheim, der auf der ganzen Flucht für meinen Diener galt, und auch die Kleidung eines solchen trug, nahm die Zügel, und so fuhren wir auf der anderen Seite des Dorfes hinaus.

Im Wagen machte ich noch einen unschätzbaren Fund. Auf dem Rücksitze lag der Paletot des Assessors mit seiner Brieftasche und seinen sämmtlichen Papieren, die dieser umsichtige Beamte ganz einfach hier zurückgelassen oder vergessen hatte, ein neuer Beweis seiner glänzenden Befähigung für den Staatsdienst. Von seinem Passe konnte ich mit meiner Hünengestalt leider keinen Gebrauch machen, dagegen fand sich unter den anderen Papieren manches Nützliche für uns. So zum Beispiel eine Ermächtigung des Polizeidepartements von L., den flüchtigen Grafen Morynski auch auf deutschem Boden zu ergreifen, ein Schreiben, das den Assessor zur Rücksprache über diese Angelegenheit bei den Behörden in W. legitimirte, endlich noch verschiedene Notizen dieser Behörden über die wahrscheinliche Richtung, die wir genommen, und über die bereits getroffenen Maßregeln zu unserer Ergreifung. Leider waren wir gewissenlos genug, die gegen uns gerichteten Documente für uns zu benutzen. Der Assessor hatte im Wirthshause erzählt, daß er heute Morgen über A. gekommen sei; dort hätte man jedenfalls den Wagen wiedererkannt und den Wechsel der Insassen bemerkt. Wir machten also einen Umweg bis zur nächsten Grenzstation und fuhren dort ganz offen als Herr Regierungsrath Hubert nebst Kutscher vor. Ich zeigte die betreffenden Papiere vor und verlangte schleunigst durchgelassen zu werden, da ich den Flüchtigen auf der Spur sei und die größte Eile noth thue. Das half augenblicklich. Niemand fragte nach unseren Pässen. Wir wurden für hinreichend legitimirt erachtet und passirten glücklich die Grenze. Eine Viertelstunde diesseits ließen wir den Wagen, der uns nur verrathen hätte, auf der Landstraße in der Nähe eines Dorfes zurück, wo er jedenfalls gefunden werden muß, und erreichten zu Fuß die Waldungen von Wilicza. Bei der Grenzförsterei fanden wir verabredetermaßen den Administrator mit den Pferden, ritten in voller Carriére hierher – und da sind wir.“

Gretchen, die eifrig zugehört hatte, war sehr ergötzt über den Streich, den man ihrem ehemaligen Bewerber gespielt hatte, Fabian’s Gutmüthigkeit aber ließ eine Schadenfreude nicht aufkommen. Er fragte im Gegentheile in besorgtem Tone:

„Und der arme Hubert?“

„Er sitzt ohne Wagen und ohne Legitimationen drüben in Polen,“ versetzte Waldemar trocken, „und kann von Glück sagen, wenn er nicht selbst noch als Hochverräther angesehen wird. Unmöglich wäre das nicht. Wenn unsere Verfolger wirklich im Wirthshause eintreffen, so finden sie dort die beiden Fremden nebst zwei gesattelten Pferden, und der Wirth wird sich hüten, einen etwaigen Irrthum aufzuklären, der unsere ungestörte Flucht sichert. Der Kutscher, der in jedem Zuge den Polen verräth, und überdies von imposanter Figur ist, kann zur Noth für einen verkleideten Edelmann gelten, der Regierungsrath für seinen Befreier und Mitverschworenen. Legitimiren kann sich der letztere nicht; die Sprache versteht er auch nicht, und unsere Nachbarn pflegen bei solchen Verhaftungen weder viel Umstände zu machen, noch sich streng an die Formen zu halten. Vielleicht genießt der Herr Regierungsrath jetzt selbst das Vergnügen, das er uns bei unserer Ankunft in Wilicza zugedacht hatte: als verdächtiges Individuum geschlossen nach der nächsten Stadt transportirt zu werden.“

„Das wäre ein unvergleichlicher Schluß seiner Amtsthätigkeit,“ spottete Gretchen, ohne sich an den ernsten Blick ihres Gatten zu kehren.

„Und nun genug von diesem Hubert!“ brach Waldemar ab. „Ich sehe Sie doch noch, wenn ich zurückkomme? Für diese Nacht bin ich freilich nur incognito im Schlosse; ich kehre erst in den nächsten Tagen officiell von Altenhof zurück, wo man mich die ganze Zeit über glaubte. Doch nun muß ich die Mutter und meine – meine Cousine begrüßen. Der erste Sturm des Wiedersehens wird jetzt wohl vorüber sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_851.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)