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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Er öffnete die Thür und trat in das anstoßende Gemach, wo sich die Seinigen befanden. Graf Morynski saß in einem Sessel. Er hielt noch immer seine Tochter in den Armen, die vor ihm auf den Knieen lag und das Haupt an seine Schulter lehnte. Der Graf hatte sehr gealtert in der letzten Zeit. Die dreizehn Monate der Haft schienen ebenso viele Jahre für ihn gewesen zu sein. Haar und Bart waren weiß geworden, und sein Antlitz zeigte unauslöschliche Spuren der Leiden, die Kerker, Krankheit und vor Allem das Schicksal seines Volkes über ihn verhängt hatten. Es war ein energischer, lebenskräftiger Mann gewesen, der vor kaum einem Jahre hier in Wilicza Abschied nahm – jetzt kehrte ein Greis zurück, dessen äußere Erscheinung schon seine Gebrochenheit verrieth.

Die Fürstin, welche neben dem Bruder stand, bemerkte zuerst den Eintritt ihres Sohnes und ging ihm entgegen.

„Kommst Du endlich, Waldemar?“ sagte sie im Tone des Vorwurfs. „Wir glaubten schon, Du wolltest Dich uns ganz entziehen.“

„Ich wollte Euer erstes Wiedersehen nicht stören,“ erwiderte er zögernd.

„Bestehst Du noch immer darauf, ein Fremder für uns zu sein? Du bist es lange genug gewesen. Mein Sohn –“ die Fürstin streckte ihm plötzlich in tiefster Bewegung beide Arme entgegen – „ich danke Dir.“

Waldemar lag in den Armen der Mutter, zum ersten Mal wieder seit seiner Kinderzeit, und in dieser langen, innigen Umarmung versanken die Jahre der Entfremdung und Bitterkeit, versank alles, was sich je kalt und feindselig zwischen sie gestellt hatte. Auch hier war eine unsichtbare und doch so unheilvolle Schranke niedergerissen. Sie hatte lange genug zwei Menschen getrennt, die durch die heiligsten Bande des Blutes einander angehörten. Der Sohn hatte sich endlich die Liebe seiner Mutter erobert.

Der Graf erhob sich jetzt auch und bot seinem Retter die Hand. „Danke ihm immerhin, Jadwiga!“ sagte er. „Ihr wißt noch nicht, was er alles für mich gewagt hat.“

„Das Wagniß war nicht so groß, wie es schien,“ lehnte Waldemar ab. „Ich hatte mir zuvor die Wege geebnet. Wo Gefängnisse sind, ist auch Bestechung möglich. Ohne diesen goldenen Schlüssel wäre ich nie bis in’s Innere der Festung gedrungen, und noch weniger wären wir beide wieder hinausgelangt.“

Wanda stand neben ihrem Vater, dessen Arm sie noch immer festhielt, als fürchte sie, er könne ihr wieder entrissen werden. Sie allein hatte noch kein Wort des Dankes gesprochen, nur ihr Blick war Waldemar entgegen geflogen, als sie sich bei seinem Eintritte umwandte, und dieser Blick mußte ihm wohl mehr gesagt haben, als alle Worte. Er schien zufrieden damit und machte keinen Versuch, sich ihr direct zu nähern.

„Noch ist die Gefahr nicht ganz überstanden,“ wandte er sich wieder an den Grafen. „Wir haben es ja leider schwarz auf weiß in Händen, daß Ihnen auch hier die Verhaftung und Auslieferung droht. Für den Augenblick freilich sind Sie sicher in Wilicza. Frank hat versprochen, uns als Wachposten zu dienen, und Sie bedürfen auch dringend einige Stunden der Ruhe, aber morgen früh müssen wir weiter nach S.“

„Ihr wollt also nicht den directen Weg nach Frankreich oder England nehmen?“ fragte die Fürstin.

„Nein, das dauert zu lange, und gerade auf diesem Wege wird man uns vermuthen; wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die See zu erreichen. S. ist der nächste Hafen und morgen Abend können wir bereits dort sein. Ich habe alles vorbereitet; schon seit vier Wochen liegt ein englisches Schiff dort, über das ich mir die alleinige Disposition gesichert habe, und das jeden Augenblick bereit ist, in See zu gehen. Es bringt Sie vorläufig nach England, mein Oheim. Von dort aus stehen Ihnen ja Frankreich, die Schweiz, Italien offen, gleichviel, wo Sie Ihren Aufenthalt wählen. Einmal auf hoher See, sind Sie gerettet.“

„Und Du, Waldemar?“ – der Graf gab seinem ältesten Neffen auch das Du, das er so lange nur dem Jüngeren zugestanden – „Wirst Du Deine Kühnheit nicht noch büßen müssen? Wer weiß, ob das Geheimniß meiner Flucht streng bewahrt bleiben wird – es wissen zu Viele darum.“

Waldemar lächelte flüchtig. „Ich habe allerdings diesmal meine Natur verleugnen und an allen Ecken und Enden Vertraute haben müssen; es ließ sich nicht anders durchführen. Zum Glück sind es sämmtlich Mitschuldige – sie können nichts verrathen, ohne sich selbst preiszugeben. Die Befreiung wird man aber unbedingt meiner Mutter zuschreiben, und wenn in Zukunft wirklich einmal Vermuthungen oder Gerüchte über die Wahrheit auftauchen, nun so leben wir ja auf deutschem Boden. Hier ist Graf Morynski weder angeklagt, noch verurtheilt worden, und hier wird seine Befreiung also auch nicht als Verbrechen gelten. Man wird es begreifen, daß ich, trotz allem, was uns politisch trennt, die Hand zur Rettung meines Oheims bot, wenn man erfährt, daß er auch – mein Vater geworden ist.“

In dem Antlitz Morynski’s zuckte etwas auf bei dieser Mahnung, was er vergebens zu unterdrücken versuchte, ein Schmerz, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Er wußte ja längst um diese Liebe, die ihm wie seiner Schwester so lange als ein Unglück, ja beinahe als ein Verbrechen erschienen war. Auch er hatte sie mit allen Mitteln bekämpft, die ihm nur zu Gebote standen, und noch in der letzten Zeit versucht, Wanda davon loszureißen; er hatte es geduldet, daß sie sich entschloß, mit ihm in ein fast sicheres Verderben zu gehen, nur um diese Verbindung zu hindern. Es war ein schweres Opfer, das er den nationalen Vorurtheilen, dem alten Nationalhaß abrang, der so lange die Richtschnur seines Lebens gewesen war, aber er sah auf den Mann, dessen Hand ihn aus dem Kerker geführt, der Leben und Freiheit daran gesetzt hatte, um ihm beides zurückzugeben – dann beugte er sich zu seiner Tochter nieder.

„Wanda!“ sagte er leise.

Wanda blickte zu ihm auf. Das Antlitz des Vaters war ihr nie so düster, so gramvoll erschienen, wie in dieser Minute. Sie war ja darauf vorbereitet gewesen, ihn verändert zu finden, aber so furchtbar hatte sie sich diese Veränderung nicht gedacht, und als sie jetzt in seinen Augen las, was ihn die Einwilligung kostete, da trat jeder eigene Wunsch zurück, und die leidenschaftliche Zärtlichkeit der Tochter flammte auf.

„Jetzt noch nicht, Waldemar!“ flehte sie mit bebender Stimme. „Du siehst, was mein Vater gelitten hat und noch leidet. Du kannst nicht fordern, daß ich mich im Augenblicke des Wiedersehens schon wieder von ihm trenne. Laß mich noch einige Zeit an seiner Seite, nur ein Jahr noch! Du hast ihn vor dem Furchtbarsten bewahrt, aber er muß doch immer in die Fremde, in die Verbannung hinaus – soll ich ihn krank und allein gehen lassen?“

Waldemar schwieg. Er fand nicht den Muth, Wanda an das Wort zu erinnern, das sie ihm bei ihrem letzten Zusammensein ausgesprochen; die gebrochene Gestalt des Grafen verbot jeden Trotz und sprach zugleich mächtig für die Bitte seiner Tochter, aber in dem jungen Manne bäumte sich jetzt der ganze Egoismus der Liebe empor. Er hatte so vieles gewagt, um die Geliebte zu besitzen, und nun ertrug er es nicht, daß man ihm den Preis noch länger versagte. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er zu Boden, als plötzlich die Fürstin dazwischen trat.

(Schluß folgt.)




Die Christnacht des Bahnwärters.


Heut’ jagt man keinen Hund hinaus –
Ich steh’ pflichtschuldig vor meinem Haus.

In Ordnung ist Alles, Signal und Bahn,
Und der Nacht-Courierzug braust heran.

O, wie viel Lebens Glück und Heil
Ist hier für fünfzehn Groschen feil!

Für fünfzehn Groschen Tag und Nacht
Halt’ ich für Leben und Gut hier Wacht.

Gottlob, daß mein der Wald gedenkt,
Zur Christnacht mir eine Tanne schenkt!

D’rauf leuchten drei Pfenniglichter so schön,
Daß wir unser ganzes Elend sehn. –

Nur die Kinder – o seliges Weihnachtslicht! –
Sind glücklich – sie sehen das Elend nicht.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 852. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_852.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)