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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


dann aber fiel mein Vater mit halb lächelnder, halb ärgerlicher Miene in’s Wort: „Schon gut, schon gut, schönen Dank, schönen Dank, Herr Nachbar!“ Und nun entstand eine Scene des stummen Spiels der Verlegenheit. Grüneisen zog ein grün und schwarz geblümtes Kattuntaschentuch aus dem Rockschoße und trocknete sich nach der herzerregenden Rede die Schweißtropfen von der Stirn. Die Schachtel wurde geöffnet – lauter frische, saftige Weintrauben und dazwischen hier und da ein Blatt weißen Papieres, auf dem in sauberer Fracturschrift von des Alten Hand dichterische Ergüsse im Style der Klopstock, Uz und Gleim zu lesen waren; denn Christian Leberecht tummelte einen wolkenflugliebenden Pegasus. Und während wir noch die Ueberschriften besagter Poesien wie „Ode an die Tugendblume Seraphine“ oder „Dithyrambe an mein auferstandenes Jugendglück“ eifrig studirten, suchte unser seltsamer Gast mit langsamem Rückwärtsschritt und hinter dem Rücken tastenden Händen den verlorenen Thürpfosten wiederzuerlangen, um dann, als er ihn glücklich erreicht hatte, unter unsagbar komischen Verbeugungen aus unserem Kreise wortlos zu verschwinden. Aber nein, murmelte er nicht etwas zwischen den Zähnen? Fast klang es, als flüsterte er: „Und sie ist mir doch wiedergeboren.“

Ich stürzte in der nächsten Minute an’s Fenster, und nun sah ich den Alten im Sturmschritt über die Straße eilen mit lang im Winde hinterdrein flatternden Rockschößen. Wenige Augenblicke später stand er schon wieder an seinem Mansardenfenster und dienerte mit freundlich strahlendem Gesichte zu uns herüber.

Ich wurde unter meinen Geschwistern ausersehen, die ihres Inhaltes entleerte Schachtel zum alten Grüneisen wieder hinüber zu tragen.

Wie mein junges Herz klopfte, als ich den Gang antrat! Ich jubelte vor Freude darüber, daß ich nun endlich einmal all die Sonderbarkeiten sollte beschauen und berühren dürfen, die, wie ich längst hatte sagen hören, unser greiser Freund in seinem Dachstübchen aufgespeichert hatte, und doch beschlich es mich wie Furcht vor dem unheimlichen alten Hause und seinem mir so interessanten Bewohner.

Mit Zagen setzte ich den Fuß auf die moosbewachsene Schwelle; sie war so glatt und schlüpfrig, daß ich mich am Thürpfeiler halten mußte, um nicht zu stolpern, und als die lose liegenden Steinplatten unter meinem Tritte sich bewegten, da kroch ein ganzes Heer von Kellergewürm aus Ritzen und Spalten über die Stufen hin. Auf dem engen finstern Hausflur schlug mir eine dumpfe Luft entgegen; tausend Spinngewebe zerreißend und an meine Kleider heftend, stieg ich zwei lange, schmale Treppen zu dem Alten hinauf, und bei jedem Schritt knarrten und ächzten die Bretter und Balken unter mir, daß es in dem stillen alten Hause in allen Ecken und Winkeln nachhallend rumorte und echoete; mir war es, als riefen mir hundert Stimmen zu: „Junior, Junior“ – denn anders nannte Grüneisen mich nie – „Junior, bist Du da?“ Und auf der obersten Stufe der langen Treppe stand er selbst, der Alte, mit den freundlichen schwarzen Augen, in dem Dämmerlichte des Treppenvorgemachs fast anzuschauen, wie ein Magus oder Priester des Alterthums – so feierlich umgab ihn der lange Rock; so würdevoll fiel das weiße Haar von seiner Stirn auf die Schultern herab. Um aber das eigenthümliche Bild zu vervollständigen, fehlte auch die Staffage nicht: sein alter Kater mit den funkelnden Augen, merkwürdiger Weise Karfunkulus genannt, sein einziger Freund und steter Begleiter auf den Gängen und Stiegen des Hauses, umknurrte und umschmeichelte ihn mit so diabolisch gekrümmtem Buckel und so seltsamen Sprüngen und Bewegungen, daß das Unheimliche des Augenblicks dadurch nur noch erhöht wurde.

„Komm’ Er nur herein, Freund Junior!“ rief der Alte mir zu, indem er mir die knöcherige Hand über’s Treppengeländer herabreichte und mich zu sich hinaufzog. „Wer da will wandeln zu den Thürmern, der muß hoch steigen aber ich sage Ihm: das Ziel, so Er erreichet, lohnet die Mühe. Post nubila Phoebus – nach Wolken die Sonne! Dort unten die Welt – hier oben eitel Friede und Freude!“

Und nun führte er mich in sein „wolkenbenachbartes Tusculum“, wie er sein Dachstübchen nannte. Eine kellerhaft feuchte Luft wehte mir beim Eintritt entgegen. Abenteuerlichste aller Menschenwohnstätten, die ich je beschritten! Das enge zweifensterige Gemach war so niedrig, daß ein ausgewachsener Mann mit gestrecktem Arm sicherlich an die Decke reichen konnte. Die Wände umrankte ein großblätteriger Epheu, der durch eine Mauerspalte des baufälligen alten Hauses vom Hofe aus kräftig hereinwuchs, so üppig und dicht, daß man sich, in die Mansarde tretend, in einer schattigen Laube wähnte. Um die wenigen Möbel des Stübchens hatten sich die vollen, blätterreichen Ausläufer des frisch grünenden Gewächses wie die weit greifenden Arme eines Riesen gelegt und Alles romantisch umwuchert und in ein saftiges Grün gehüllt. Selbst von der Decke herab hingen lange Ranken in’s Zimmer hinein und berührten mir, so oft ich einen Schritt that, Scheitel und Wangen, daß ich jedes Mal erschrocken zusammenfuhr. Der kleine Raum wurde durch einen großen im Epheu ganz vergrabenen Schrank, der zwischen den beiden Fenstern mit der einen Schmalseite an die Wand gestellt war, in zwei gleiche Hälften getheilt, sodaß man in der That zwei Zimmer vor sich zu sehen meinte. Bewunderungswürdige Zweckdienlichkeit dieses Schrankes! Er bildete nicht nur die Scheidewand zwischen dem Wohn- und Schlafzimmer des Herrn Candidaten, er war auch Raritätenbehälter, Speisekammer, Bücherrepositorium, Kleiderschrank, ohne dadurch seine praktische Verwendbarkeit zu erschöpfen; denn in seinem untersten Fache, nach der Seite des Schlafgemachs hin, sozusagen im Parterre des Schrankes, hatte Vater Grüneisen sich aus Stroh und einigen dürftigen Betten sein höchst einfaches Nachtlager bereitet, „die stille Geburtsstätte meiner Träume“, wie er es zu bezeichnen pflegte.

Zwischen den Epheuranken hingen rings an den Wänden zahlreiche farbige Bilder, wie man sie in Bauernstuben findet. Eines dieser Bilder aber – es war bei weitem größer als die übrigen und hatte seinen Platz etwas abseits in einer Nische – war mit einem dichten Schleier verhüllt und vom Epheu fast ganz überdeckt.

„Mehercule, mehercule! um des Himmelswillen, Freund Junior!“ rief erschrocken der Alte, als ich, neugierig, wie ich war, die bergende Hülle zurückziehen wollte. „Laß’ Er das, laß’ Er das! Denn ich sage Ihm: das sind versunkene Träume, so Er nicht kann deuten noch fassen. Die Wellen rauschen darüber, und das Wasser ist gar so tief. Ach, Junior, Er kann das Blümlein nicht schauen, so da unten am Grunde wurzelt und winkt. Aber Christian Leberecht siehet das Blümlein wohl trotz der alten Augen und der ewig jungen Thränen darin. Und das Blümlein ist todt. Laß’ Er das, Freund Junior!“ Und indem er so sprach, schien er mit träumenden Blicken müde und traurig in eine weit entlegene Zeit zurück zu schauen.

„Hier hinein steck’ Er die Nase!“ fuhr er dann fort, wie aus tiefem Schlaf erwachend, und schob mich zu dem alten Schrank vor das Fach der Raritäten. „Studium mater est sapientiae, will sagen: Fleiß ist der Weisheit Anfang. Darum studire Er!“ Sprach’s und setzte sich auf ein halbvermorschtes Sopha.

Ich durfte unter den gelehrten und profanen Sammlungen des Schrankes nach Herzenslust kramen und räumen. Münzen aus allen Zeiten der Geschichte, werthvolle kleine Urnen und Vasen aus Rom und China, Handschriften berühmter Männer und zahllose Erinnerungszeichen aus dem eigenen Leben des sonderbaren Alten, daneben aber allerlei Absurditäten, wie eine Schachtel mit einem Stück der ägyptischen Finsterniß, ein Splitter von der Himmelsleiter, die Jacob im Traum gesehen, und dergleichen Kostbarkeiten mehr – welch’ eine reiche Nahrung für die Phantasie des Knaben! Ich vertiefte mich ganz in diese Schätze.

„Ein Buch, Vater Grüneisen, ein Buch!“ rief ich plötzlich erstaunt und jubelnd, als mir unter den tausend Sachen und Sächelchen des Schrankes ein stattlicher Foliant in schweinsledernem Einband in die Hand fiel, der vom ersten bis zum letzten Blatt von des Alten Feder voll geschrieben war.

„Ist Er des Teufels, Freund Junior?“ fuhr mein greiser Gönner von dem wurmstichigen Sopha, heftig gesticulirend, so eilfertig und unstät auf, daß Karfunkulus, der neben ihm sein gewohntes weiches Lager eingenommen hatte, mit leuchtenden Augen zischend auf ihn zugestürzt kam und der alte Schrank in seinen Grundvesten wankte und schwankte. „Das ist mein sacer liber, zu deutsch: mein heiliges Buch, so Er soll lassen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_866.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)